»Ich wollte sichergehen, dass du es bist.«
Sie sah ihn an. Er steckte in seiner Robe und war bewaffnet. Sie nickte, streckte sich und streichelte das Erdenkind, wie sie den Bolg-Riesen gestreichelt hatte, als er sie in den Tunneln beschützt hatte. »Wo ist Grunthor?«
»Er hat Bereitschaftsdienst. Es sind einige Waffen verschwunden.« Er holte einen Weinschlauch hervor und bot ihn ihr an, doch sie lehnte ab und schüttelte den Kopf.
»Hast du das Blut benutzt?«
»Noch nicht. Ich warte darauf, dass du den Berg verlässt.«
»Warum? Ich hatte geglaubt, du wartest, bis ich zurückkehre.« Ihre Frage klang sanft. Es lag etwas Nachdenkliches in Achmeds Verhalten, und sie wollte ihn nicht erzürnen. Zum letzten Mal war er in einer solchen Stimmung gewesen, als sie auf einem Gipfel gesessen hatten, der eine schon lange tote Schlucht unter ihnen überblickt hatte. Sie hatten über die verdorrte Heide geblickt, und Achmed hatte über die erste große Niederlage seines Heeres nachgedacht. Was ihnen nun bevorstand, war viel größer und zerstörerischer; man konnte es nur mit klarem Kopf überdenken.
»Ich weiß nicht, was geschehen wird«, sagte er nur. »Es wäre besser, wenn du dich auf den Weg machtest und den Lirin etwas Vernunft beibrächtest, während ich mit dem Ritual beginne. Ich muss einiges wieder gutmachen. Wie du, so habe auch ich meinen Lehrer früh verloren. Er hätte sich in seinen wildesten Träume nicht vorgestellt, was in dieser Welt und der vergangenen geschehen ist.«
Rhapsody seufzte und schlang die Arme um die Knie. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich den Lirin von Nutzen sein kann. Es ist eine so weite Reise.«
Achmed schnaubte verächtlich.
»Wollen wir schon wieder deine Fähigkeiten als Benennerin infrage stellen?«
»Ich bin mir über meine Fähigkeiten nicht im Klaren. Ich will nicht, dass sie mich mitten in einer wichtigen Sache verlassen.«
»Das werden sie nicht. Ich war der Meinung, das Nacherleben von Gwylliams traurigem Tod hätte dich eines Besseren belehrt.« Er sah einen Moment lang die ferne Flamme aus dem Schlot in der Mitte des Loritoriums an und richtete dann seinen starren Blick wieder auf Rhapsody. »Damals, in der ersten Nacht am Lagerfeuer, habe ich dich gefragt, was du kannst. Du hast geantwortet: ›Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern/ Und genau das ist es, was du getan hast.
Die Vorstellung, dass eine Benennerin wie ein Albino oder eine Jungfrau von Geburt an mit ihrer Gabe ausgestattet ist und nie wieder mit derselben Macht oder Überzeugung sprechen kann, sobald sie sich einmal geändert hat, ist wie die Annahme, eine Heilerin müsse jede verwundete oder sterbende Person retten können, um Heilerin zu bleiben, oder dass ein Mörder nie sein Ziel verfehlen und Werkzeug oder Waffe für jemand anderes sein darf, oder dass ein Sergeant-Major niemals mehr Anführer sein kann, wenn seine Kompanie getötet wurde. Du musst wissen, Rhapsody, dass in jeder Berufung zumindest teilweises Versagen möglich ist. Das soll dich nicht erschrecken. Wenn du dein Selbstvertrauen verlierst, wird deine Kraft, die dir der Dämon nie hätte nehmen können, bestimmt abnehmen.
In gewisser Weise ist der F’dor ein Entnenner. Er lügt, um die Welt zu einem Ende zu bringen. Verträge, Leben und Tod, ja sogar die Gestalt, die der Dämon annimmt, gehören zu seinem Versuch, die Welt ungeschehen zu machen, die Überlieferungen zu verbergen und das Gefängnis zu zerbrechen, damit die Erde nicht länger ein Ort des Lebens ist, sondern des kosmischen Staubes, der nicht mehr ist als die zerschmetterte Eierschale einer undenkbaren Bestie. Bei unserer Reise durch die Welt haben wir alles gesehen. Wir haben berührt, was man sich nicht einmal vorstellen kann; wir reden hier und jetzt in Anwesenheit einer Rasse, die so alt wie deine ältesten Überlieferungen ist, und doch sagen wir nicht alles, was wir wissen. Wir wagen es nicht. Was würden die Lirin tun, um das Erwachen des Wurms zu erklären, zu verhindern oder zu überleben? Man kann nirgendwohin fliehen; es gibt keinen sicheren Unterschlupf. Wie tief müssen sich die Nain vergraben, um sich zu schützen? Kann ein Seemann weit genug segeln, ein Soldat hart genug trainieren? Während unsere eigene Rasse Ryle hira sagt so ist das Leben , hast du dich stattdessen entschieden, die Wahrheit zu sagen, nämlich dass unser persönliches Leben eine Bedeutung hat. Obwohl es nicht die Wahrheit dieser Schatten und dieses Kindes ist, hat sie doch ausgereicht, um dich durch die Flammen im Mittelpunkt der Erde zu geleiten.« Er drehte sich um und ging ein paar Schritte zurück durch den Tunnel.
»Die Welt so zu sehen, wie sie ist, führt sicherlich in den Wahnsinn. Es ist besser, die Welt so zu sehen, wie man sie sehen möchte. Ich glaube, du warst es, die mir diese Wahrheit als Erste erklärt hat.«
»Und welche Welt möchtest du sehen?«
Er blieb stehen, drehte sich langsam um und sah sie mit dem Schwert an der Hüfte dastehen und das Haar ausschütteln. Er lachte stumm.
»Ich möchte eine Welt sehen, in der es keine F’dor mehr gibt und sie nur noch alte Legenden sind«, sagte er. »Und du willst eine Welt sehen, in der die Lirin vereinigt sind. Vielleicht sollten wir beide unsere Weltsicht in Einklang bringen, damit sie eines Tages von Benennern exakt ausgedrückt werden kann.«
Rhapsody war von der Musik in seiner Stimme und der unterschwelligen Bedeutung seiner Worte tief beeindruckt.
Er wusste nicht, ob er sie je wieder sehen würde, wenn sie nun ginge.
Sie verschränkte die Arme und sah ihn freundlich an.
»Du musst mir etwas sagen.«
»Was willst du wissen?«
»Grunthor hat mir ein wenig davon erzählt, wie und wo ihr euch getroffen habt.«
Achmed sah zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. »Grunthor wird alles Mögliche sagen, nur um dich im Berg zu halten. Obwohl er einer der gewitztesten Männer ist, die ich kenne, ist er auch mit der Gabe einer gewissen Naivität gesegnet. Er hatte all diese Jahre, um zu begreifen, wie er verflucht wurde, und er wird es glücklicherweise nie verstehen.«
»Verflucht?«, fragte Rhapsody verblüfft. »Wie kannst du so etwas sagen? Grunthor ist ein so reines Wesen. Er kann doch nicht verflucht sein.«
»Grunthor ist stärker verflucht als du mit all deinen Nachtmahren und deiner absichtlichen Blindheit Dingen gegenüber, die du nicht sehen willst. Grunthor trägt den Fluch der Erde, denn er ist ihr Kind.«
»Ich hasse es, wenn du so rätselhafte Dinge sagst. Erkläre das.«
»Grunthor hat die Gabe des Beschützens und auch das Bedürfnis danach. Das hast du sicherlich schon bemerkt. Er beschützt deinen Hintern seit dem Augenblick, in dem wir dich in dem Hinterhof in Ostend getroffen haben. Bei Jo war es dasselbe, und es ist genauso mit dem Erdenkind und mit den Bolg-Soldaten , die er misshandelt und liebt. Es war dasselbe im alten Land. Es war und ist bei mir dasselbe. Wenn er alles, was ihm lieb und wert ist, unter seine Haut stecken und mit seinem Blut und Leben umkleiden könnte, würde er dieses Beschützertum einfacher finden, aber hier und jetzt trägt alles, was mit der Erde verbunden ist, eine Spur des Wurms in sich. Dein Schutz wird ihn eines Tages töten. Und er kann es nicht ertragen zu sterben, weil es dir Schmerzen bereiten würde. Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie saust durch den Äther, und selbst die Götter kennen ihren Weg nicht. Tief in ihrem Herzen trägt sie das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter bedeuten kann. Wie die Erde, wie die Großmutter, so ist auch Grunthor bereit, sein Leben zu deinem Schutz zu verlieren.« Rhapsody schüttelte den Kopf, während sie ihre Ausrüstung überprüfte. »Nein. Es gibt keinen Grund, mich weiterhin zu beschützen. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Grunthor weiß das besser als jeder andere er hat mich schließlich ausgebildet.«