Aus den Augenwinkeln sah er das Glitzern von Waffen und hörte, wie Armbrüste aufgezogen und geladen wurden. Sein Kopf wurde so schwer, dass er ihn nicht mehr aufrecht halten konnte. Er kämpfte darum, ihn so hoch zu heben, dass er ihnen in die Augen sehen konnte in die hellen Augen, die innerhalb der dunklen Umrisse in Blautönungen schimmerten. Sie hatten eine Lichtquelle mitgebracht, aber er erkannte sie nicht. Er bemerkte diese Seltsamkeit:
Die Augen der meisten Bolg waren so schwarz wie die Höhlenfinsternis, aus der sie gekommen waren. Er versuchte zu sprechen, ihnen den Rückzug zu befehlen, doch seine Stimme versagte.
Das unmissverständliche Geräusch von Metall, das aus Lederscheiden gezogen wird, verband sich mit weiterem Spannen von Armbrüsten. Achmed fluchte wieder nicht über seinen bevorstehenden Tod, sondern über dessen völlige Sinnlosigkeit.
Als die Menge der Finder einen Schritt vortrat, zerriss ein schrecklicher Schrei die Luft des Tunnels. Es war ein Brüllen, das Achmed das Blut gefrieren ließ und gleichzeitig sein Herz wärmte. Aus dem Zeigefingertunnel der Hand ertönte der Lärm stampfender Stiefel und klappernder Waffen, unter dem die Erde erbebte. Es waren die Geräusche von Muskeln in Bewegung, angespornt durch Wut und Sorge. Ein weiterer Schrei, diesmal verbunden mit deutlichen Worten:
»Was soll denn das hier?«
Im Bruchteil einer Sekunde zerstreuten sich die Finder und verschwanden in den Tunneln, aus denen sie so vorsichtig hervorgekrochen waren. Achmed konnte den Kopf gerade genug heben, um die herannahende Gestalt des Sergeant-Majors zu sehen, die beinahe so groß wie der Tunnel selbst und so breit wie ein Brauereipferd war und sich aus der Dunkelheit auf ihn zuwälzte. Im nächsten Augenblick war Grunthor bei ihm angelangt und sah in einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen auf ihn herab.
»Alles in Ordnung?«
Achmed nickte schwach, was ihn seine ganze verbliebene Kraft kostete.
Ohne ein weiteres Wort hob Grunthor ihn auf, warf ihn sich über den Rücken und trug ihn in das stumpfe Licht und die Wärme der Gebirgskammern von Ylorc.
»Warm genug?«, fragte Grunthor.
Achmed nickte knapp. »Vielen Dank.« Er richtete sich zwischen den schwarzen Seidenlaken seines Bettes auf und rutschte wieder ein wenig zurück. »Zeig mir deine Beute.«
Vorsichtig packte der Sergeant die Gegenstände aus, die er im Hort der Finder entdeckt hatte. Achmed schaute sie sich an und hielt bei dem Topf mit dem abgebrochenen Henkel inne.
»Ein Nachttopf?«, fragte er verachtungsvoll. »Sie haben mein Königreich für einen Nachttopf verkauft?«
»Die Bolg wissen nich, was’n Pisstopf ist«, sagte Grunthor und fuhr mit dem Zeigefinger über das eingravierte Siegel. »Sie wissen nur, dass er das Wappen hat.« Er übergab dem Bolg-König das Wachssiegel. »Warum hat wohl der alte Gwylliam im Sterben das hier haben wollen? Wollte er noch ’ne Bekanntmachung siegeln, bevor er ins Gras beißt?«
Achmed zuckte die Achseln. Allmählich kehrte seine Kraft und damit auch das Selbstbewusstsein zurück. Tief in seinem Unbewussten jedoch spürte er das Blutband, das ihn mit dem noch unentdeckten Wirt des F’dor verband, der irgendwo westlich der Zahnfelsen lauerte.
»Er hat gleichzeitig danach und nach dem Hörn gerufen«, sagte er und drückte sich gegen die Kissen. »Gib mir das Manuskript über das Hörn, das ich für Rhapsody herausgeholt hatte. Vielleicht gibt es irgendeine Verbindung.«
Grunthor stand auf, holte die Schriftrolle vom Schreibtisch des Königs und brachte sie ihm ans Bett.
»Vielleicht solltest du dich jetzt ’n bisschen ausruhen«, meinte er. »Bin sicher, du brauchst es. Ich weiß, dass ich es brauch, nachdem ich dich in deiner ganzen Pracht gesehen hab. Werd mich davon wohl nicht so schnell erholen.«
Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus den Tunneln lächelte Achmed.
»Nur ein kurzer Blick, Sergeant«, sagte er und entrollte das Schriftstück. Grunthor seufzte und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Seiner Erfahrung nach dauerte ein kurzer Blick mindestens zwei Stunden.
Er war schon lange eingenickt, als er plötzlich eine Veränderung in der Luft des Raumes spürte. Er setzte sich sofort auf und wandte sich Achmed zu, der jetzt an seinem Schreibtisch saß und über dem alten Pergament brütete.
Grunthor reckte und streckte sich. »Also?«, fragte er mitten in einem Gähnen.
Die Augen des Fir-Bolg-Königs waren hell vor Erregung, als er sich nach Grunthor umdrehte.
»Ich habe es gefunden«, sagte er.
»Und?«
»Das Hörn ...ist das Große Siegel. Es ist das Testament und die Zeugenbestätigung des Bundes, den sie alle eingehen mussten im Gegenzug für ihr neues Leben in diesem Land. Als die Drei Flotten in See stachen, wussten sie genau, dass sie die ganze Welt durchqueren mussten, um ihre Kultur am Leben zu erhalten. Und nach Gwylliams Auffassung beinhaltete diese Kultur sicherlich auch das Abstammungsrecht. Er wollte nicht nur seine Untertanen retten, sondern auch sein eigenes Königtum.«
Er hielt die Schriftrolle gegen das Licht, damit auch Grunthor sie sehen konnte. Der Sergeant warf einen Blick über die Schulter auf die Illustrationen des Horns und der Docks der drei Hafenstädte von Serendair.
»Anscheinend war der Preis für einen Platz auf einem der Schiffe, die die alte Welt vor der Katastrophe verlassen haben, ein Eid, ein Versprechen, beim Klang des Horns herbeizueilen. Jeder Flüchtling legte die Hand darauf, wenn er das Schiff betrat, und schwor Gwylliam und dessen Erben Treue auf alle Zeiten. Das Hörn ist das Siegel dieses Versprechens. Es muss vergleichbar mit Rhapsodys Macht als Benennerin sein der feierlichste aller Eide in Gegenwart einer undenkbaren Macht, nämlich dem sich erhebenden Schlafenden Kind im Wasser vor der Küste, wo die Zeit ihren Anfang nahm, ausgesprochen vom Hochkönig jenes Landes. Aus diesem Grund fühlen sich die Cymrer durch alle Generationen hindurch verpflichtet, sich bei seinem Klang zu versammeln. All diese uralten, mächtigen Leute, die entweder selbst oder deren Vorfahren dem Hörn Treue geschworen haben, sind mit tiefen Blutsbanden an den Rufer gefesselt, und zwar durch den stärksten aller Treueeide.«
Achmed lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte in sich hinein.
»Und was ist daran so lustig?«
Der König rollte hastig das Manuskript zusammen und warf es auf den Tisch.
»Rhapsody wird das Hörn blasen.«
56
Seit den ersten erinnerten Tagen berichteten die Legenden von den Verwüstungen der Drachin Elynsynos und erzählten die Geschichte, wie sie den westlichen Teil des Kontinents aus Wut über die Landung der Ersten Flotte in Schutt und Asche gelegt hatte.
Als die Flotte anlandete und Merithyn, der Erforscher und Liebhaber der Drachin, nicht dabei war, erschuf den Geschichten zufolge Elynsynos aus Zorn einen großen Feuerball, der aus ihrem kupferfarbenen Bauch hervorkam und voll zerstörerischer Kraft und Raserei war. Die Flammen dieses wütenden Atems setzten den uralten Wald in Brand, der den Großen Weißen Baum umgab, mauerten Gwynwald in endlosen Feuerwänden ein und zerstörten bis zur Küste alles außer dem Großen Weißen Baum selbst; doch es ging das Gerücht um, dass seine obersten Zweige noch immer Zeichen des Rußes und schwärzenden Feuers trugen.
Wie die Legenden erzählten, verbreitete sich das Feuer rasend schnell ostwärts, bis es die innere Provinz Bethania erreichte, wo es in Berührung mit dem offenen Schlot aus dem Innern der Erde kam, der sich in einem feurigen Geysir entzündete, welcher in den Nachthimmel schoss und meilenweit sichtbar war. Glücklicherweise diente die Elementarfontäne als Feuerbrecher und verschonte so den Rest des Kontinents vor den Auswirkungen des Drachenzorns.
Khaddyr hatte schon immer gewusst, dass diese Legenden Lügen waren. Die Filiden wussten es ebenfalls. Der Wald von Gwynwald war ein jungfräuliches Gehölz, frei von Feuereschen und anderen Bäumen, die aus der Asche eines so großen Brandes hervorgegangen wären. Hier hatte es nie ein nennenswertes Feuer gegeben; nichts hatte je ein Dorf oder einen Außenposten bedroht außer dem gelegentlichen Brand nach einem Blitzeinschlag oder außer Kontrolle geratenen Lagerfeuern sowie dem zerstörerischen Gefolge von Gwylliams Streitkräften während des cymrischen Krieges. Nur jemand, der keinerlei Ahnung von Waldwirtschaft hatte, konnte diesen Geschichten über die Raserei der Drachin Glauben schenken.