Выбрать главу

Zeit war alles.

Der Fürst von Roland stand entschlossen auf und rief nach seinem Botschafter.

»Evans. Evans!«

Als der alte Mann noch im Nachthemd an der Bibliothekstür erschien, gab Tristan Steward den umhereilenden Dienern bereits seine Anweisungen. Er hielt nur kurz inne, um einen Blick über die Schulter auf den alten Botschafter zu werfen.

»Evans, pack deine wichtigsten Reiseutensilien zusammen. Wir müssen an einer Krönung teilnehmen.«

Diener freigab. Er lehnte sich vor und machte eine Geste, die den Fahrer davon abhalten sollte, den Patriarchen und die vier anderen Segner zu wecken, die auf den kleinen Bänken an den Innenwänden des Gefährts schliefen.

»Was ist los, mein Sohn?«, fragte der heilige Mann.

»Die Brücke ist in einem schlechten Zustand, Euer Gnaden. Eis hat die Hauptstütze zerbrochen. Wir müssen umkehren und nach Norden zu Fischers Landung fahren; das ist von hier aus die nächste Stelle, an der wir den Phon überqueren können.«

Der heilige Mann nickte, und das kleine Fenster wurde wieder geschlossen.

Er sah verächtlich auf die anderen Männer, die in verschiedenen disharmonischen Tonlagen schnarchten und hässliche Knacklaute von sich gaben. Jeder von ihnen hatte sich in die Arme des Schlafes gehüllt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Vielleicht im Sommer oder noch davor; seitdem hatte er kein Bedürfnis nach Schlaf mehr, sondern verbrachte seine Tage und Nächte in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Der menschliche Körper, den er bewohnte, wurde manchmal müde, fiel aber nie in völlige Bewusstlosigkeit. In den ruhigen Augenblicken trieb sein Geist in einer Art von Meditation durch Gedanken und Träume, die sowohl den Platz des Schlafes als auch den des Wachseins eingenommen hatten. In gewisser Weise war er ein Schlafwandler: immer auf der Hut und auf den Tag wartend, an dem der Schlaf völlig enden würde.

Und der Albtraum beginnen konnte.

Es war beinahe so weit.

An der Brücke über den Phon in Bethania

Die massive Kutsche des Patriarchen kam in der Dunkelheit zu einem plötzlichen Halt. Der heilige Mann setzte sich aufrecht hin, als sich das kleine Fenster am vorderen Ende des Wagens öffnete und den Blick auf das Gesicht eines der vier[...]

60

Südwestliches Navarne, am Rande des Waldes von Tyrian

»Hatte ja keine Ahnung, dass du auch Flöten machen kannst«, bemerkte Grunthor, während er das erlöschende Feuer mitten in ihrem Lager am Rande von Tyrian betrachtete. »Du bist wirklich ’n Mann mit vielen Talenten.« Er blickte in die Dunkelheit des Waldes und rechnete nach, dass sie bei ihrer Geschwindigkeit einen Tag vor der Krönung eintreffen würden. Achmed trieb langsam einen spitzen Schneckenbohrer in das lange, lackierte Instrument, das er in Gwylliams Schatzgruft in einer Kiste mit Messingbändern gefunden hatte.

»Mir gefällt die Vorstellung nicht, unbewaffnet zu sein. Diese Flöte ist ein Geschenk für Rhapsody; ich glaube, es ist eine Antiquität. Falls nicht, dann sieht sie jedenfalls so aus, wenn ich mit ihr fertig bin.« Seine Stimme schwang in den Rhythmus seiner Arbeit ein. Verstehen legte sich in Grunthors Stimme. »Erwartest du ’n Problem bei der Krönung? Von wem?«

»Von keinem und jedem. Die Lirin nehmen ihre ›Keine Waffen‹ Regel sehr ernst. Als ich das hier mitgenommen habe, habe ich mir gedacht, es könnte als Stock dienen, aber ich will unbedingt vorbereitet sein, falls jemand erscheint, der nicht eingeladen ist.« Grunthor nickte.

»Ich erwarte zwar, dass die Lirin Rhapsody gut bewachen, aber ich will nicht hilflos sein, falls es eine Panne gibt.«

»Was für Pfeile willst du denn in deiner ›Flöte‹ benutzen?«

»Die schweren. Aus diesem Grund muss das Innere gefurcht sein.«

»Klingt wie Hrekin.«

»Das wird ihr egal sein. Es ist der gute Vorsatz, der zählt. Besonders wenn er ihr das Leben rettet.«

Die Reisenden arbeiteten eine Weile weiter und hörten erst auf, als der Feuerkreis völlig dunkel geworden war. Grunthor fütterte die Pferde, die ein paar Schritte entfernt standen, und deckte sie für die Nacht zu; dann begab er sich in das geschützte Gebiet zwischen Achmeds Wachtposten und dem Feuerkreis und legte sich schlafen. Er sah in die Richtung des Fir-Bolg-Königs und erkannte schwach seine Umrisse. »Wirst du ihr etwas von dem anderen Zweck der Flöte sagen?«

»Nein. Das ist nicht nötig, wenn du die Pfeile aus den Körpern entfernst, bevor Rhapsody sie bemerkt.« Achmed kauerte sich dichter über den Boden. »Es ist wichtig, dass sie es nicht weiß. Sie hat jetzt ihren Platz gefunden, und wenn sie sich das Leben erobern möchte, das sie haben will, muss sie das Gefühl haben, allein für sich verantwortlich zu sein.«

Ein verärgertes Seufzen kam von der Stelle, wo Grunthor lag, und in der Antwort des Riesen war ein tiefes Grummeln zu hören. »Ich hass es, sie hinters Licht zu führen. Ihr lebt alle mit so vielen Lügen. Ich weiß nich, wie ihr das aushaltet.«

»Alle außer dir, mein Freund; ich weiß. Wenn man über einige Dinge die Wahrheit sagt, bedeutet das, dass man sie über alles sagt. Die Lügen helfen uns dabei, uns selbst auszuhalten. Ich hoffe, du lebst lange genug, um zu verstehen, was ich meine.«

Grunthor, der den Klang der verwirrenden Stimme schon so lange kannte, war bereits eingeschlafen.

Der Lirin Palast in Newydd Dda

Rhapsody sah aus dem Balkonfenster in die Dunkelheit des Hofes. Den ganzen Tag und bis tief in die Nacht waren Vorbereitungen getroffen und die Bäume von Tyrians Wald mit Winterblumen und Windspielen behangen worden.

Im Hof hatte man ein Podest errichtet, wobei man die bereits bestehenden Tribünen benutzt und so hingestellt hatte, dass die Ehrengäste vor der frisch gekrönten Königin vorbeidefilieren konnten. Das andauernde Hämmern und Sägen vor dem Fenster erinnerte Rhapsody an die Errichtung eines Galgens. Das war ein passendes Bild, denn sie fühlte sich in der Tat wie eine Gefangene, die am nächsten Morgen hingerichtet werden sollte.

Als der Lärm verstummt war, öffnete sie die großen Glastüren, um die Nachtluft hereinzulassen. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, der das Schlafzimmer mit dem süßen Duft einer warmen Winternacht erfüllte. Die Blätter der Bäume, die den Baldachin des Bettes bildeten, raschelten über ihr, als sie sich untröstlich niedersetzte und wünschte, sie wäre in Elysian.

Die Vorhänge flatterten wieder auf und eine verhüllte Gestalt trat aus dem Schatten auf den Balkon und kam in das Zimmer. Rhapsody schaute auf und war entsetzt über die Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen. Doch dann legte sich ein breites Grinsen der Erleichterung auf ihr Gesicht. Sie sprang aus dem Bett und lief auf den Eindringling zu.

»Du bist gekommen! Ich hatte es so gehofft. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen.«

»Das Schafott ist fast fertig«, sagte Achmed mit einem trockenen Lächeln. »Noch ist Zeit zur Flucht.«

»Führe mich nicht in Versuchung. Ich habe gehofft, du würdest mich davon abhalten.«

Rhapsody nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn in ihren Schrank.

»Es gibt keine neuen Welten mehr, in denen du Zuflucht suchen könntest«, sagte Achmed und goss aus der Karaffe auf der Anrichte Branntwein in ein schweres Kristallglas.

Rhapsody erzitterte. Selbst nach dieser langen Zeit war die Erinnerung an die Wurzel noch sehr lebendig in ihr. »Ich dachte, du bist hier, um mich aufzumuntern.«

»Das Fenster ist offen; wir können gehen«, sagte er und setzte sich in einen der samtenen Ohrensessel vor dem Kaminfeuer.

»Warum machst du es dir dann bequem?«