Tristan Steward und der Prinz von Sorbold hatten Rhapsodys Hand geküsst und ihr alles Gute gewünscht und waren dann von dem Podest zurück in den Kreis ihrer eigenen Wachen getreten. Nun näherten sich ihr der Patriarch und seine fünf Seligpreiser, die sie ebenfalls segnen wollten.
Plötzlich tat Achmeds Herz einen Satz, und einen Moment lang konnte er durch die Augen des Dämons sehen. Er musste sich entweder in der Gruppe des Patriarchen oder in deren Nähe befinden. Ansonsten befanden sich nur die Mitglieder der Ehrengarde so nahe bei der Königin.
Zur gleichen Zeit, als sein Blick mit dem des F’dor verschmolz, sah er auch in dessen Geist. Da war nirgendwo ein Mordvorsatz; er war gekommen, um die neue Königin unter seinen Bann zu stellen und sie zu verzaubern. Er spürte, wie der F’dor zum Sprung bereit war und Rhapsody besitzen wollte, wie er die anderen besessen hatte. Achmed wusste, dass sie den Tod dieser Aussicht bevorzugen würde.
Furcht durchpulste ihn, und die kurzzeitige Verbindung mit dem Dämon verschwand. Achmed musste seinen Drang unter drücken, Rhapsody zuzurufen, sie solle fortlaufen und das Risiko eingehen, damit dem F’dor zu zeigen, dass sie ihn erspüren konnten. Doch es wäre sinnlos gewesen; eher hätte er die Aufmerksamkeit einer Braut quer über einen Marktplatz kurz nach der Hochzeit erringen können. Er musste den F’dor auf andere Weise daran hindern, ihr zu nahe zu kommen, ohne dass dieser etwas von seiner Enttarnung bemerkte.
Achmed richtete sich auf und jagte den flüchtigen Identitätsbanden durch die Luftströmungen und Windlandschaften nach. Die Stimme der dhrakischen Großmutter, die ihm das Bannritual beigebracht hatte, ertönte in seinem Kopf.
Lass dein Selbst sterben.
Achmed nickte kaum merklich und zwang seinen Herzschlag, langsamer zu werden.
Rufe in deinem Geist jeden der vier Winde. Singe jeden einzelnen Namen und verankere ihn dann an einem deiner Finger.
Bien, dachte Achmed. Der Nordwind, der Stärkste. Er öffnete seine erste Kehle und summte den Namen; der Klang hallte durch seine Brust und die erste Herzkammer. Er hielt den Zeigefinger hoch; die empfindliche Haut an der Spitze prickelte, als sich ein Luftzug um sie wickelte.
Jahne, flüsterte er in Gedanken. Der Südwind, der Ausdauerndste. Mit seiner zweiten Kehle rief er diesen nächsten Wind und setzte dabei die zweite Herzkammer ein. Um den Mittelfinger spürte er, wie sich ein weiterer Luftzug verankerte. Als beide Schwingungen deutlich und stark geworden waren, fuhr er fort und öffnete die beiden anderen Kehlen und Herzkammern. Lenk. Der Westwind, der Wind der Gerechtigkeit. Thas. Der Ostwind. Der Wind des Morgens; der Wind des Todes.
Ein Netz aus Wind.
Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksaclass="underline" Der, welcher jagt, wird auch beschützen; der, welcher nährt, wird auch verlassen; der, welcher heilt, wird auch töten, hatte Zephyr, der letzte dhrakische Weise, in der letzten dhrakischen Prophezeiung gesagt. Hüte dich vor dem Schlafwandler, denn Blut wird das Mittel sein, um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.
Es ist an der Zeit, sich nicht länger zu verstecken, dachte Achmed. Komm heraus und spiel mit mir, du Bastard.
Er warf das unsichtbare Netz in die Richtung, in der er den dämonischen Rhythmus gespürt hatte. Die hoch empfindlichen Nerven seines Gesichts spürten, wie die prickelnde Brise für einen Moment erstarb, als sich die Winde zu einer Schlinge verbanden.
Dann passte plötzlich alles zusammen: der Geruch, der Herzschlag, die Position. Er hatte den F’dor gefunden.
Nun, da er den Wirt des Dämons identifiziert hatte, wusste er, dass er einen sauberen Schuss abgeben konnte, doch ohne eine Waffe für den Einsatz nach dem ersten Schlag würde es keine Überlebenden in der ganzen Schar geben, wenn er den Schreien seines Blutes und seiner Natur folgte und das Gewehr abfeuerte. Sein Pfeil könnte sich für einen Menschen als tödlich erweisen, nicht aber für einen Dämon. Er würde entweder aus dem sterbenden Körper fliehen oder alle anderen umbringen. Bei der unbewaffneten, wunderbar gekleideten Rhapsody würde er beginnen.
»Adieu, Vater«, flüsterte er, als er die Flöte an die Lippen setzte.
Grunthor hatte Achmeds Bewegungen gesehen und bemerkt, wie er die Flöte verborgen hatte. Er stand nahe genug neben Rhapsody, um mit einem Schritt bei ihr zu sein; es war ihm leicht möglich, sich zwischen sie und jegliche Bedrohung zu werfen, die er sah oder spürte. Achmeds Bewegung verwirrte ihn, doch er vermutete, dass er der Einzige auf dem Podest war, der sie bemerkt hatte. Rhapsody hatte ihre Ehrengarde nur ein einziges Mal angesehen, als sich das Kontingent aus Gwynwald genähert hatte.
Der Sergeant versuchte, die Art der Bedrohung zu erkennen. Wen hatte Achmed im Verdacht? Er sah eingehend die beiden Prinzen am Beginn der Gratulationsreihe an. Die nächste Gruppe war die des Patriarchen und seiner Hand voll Seligpreiser. Sie begrüßten die Königin.
Erneut versuchte Grunthor, die Gesichter und Bewegungen der Gäste zu deuten, doch er bemerkte weder Feindseligkeiten noch Waffen. Der Patriarch war Rhapsodys Liebling. Er war sehr gebrechlich und auf die vielen Hände angewiesen, die ihn selbst und seine Organisation am Leben erhielten. Rhapsody hatte ihn vor einigen Monaten gegen den Rakshas verteidigt und geglaubt, der F’dor sei an diesem Angriff beteiligt gewesen. Es schien unwahrscheinlich zu sein, dass er von dem Dämon besessen war oder ihn erkennen konnte.
Grunthor sah sich wieder nach Achmed um und konnte ihn nirgends mehr entdecken. Rhapsody umarmte den Patriarchen mit ihren Gefühlen; er flüsterte ihr einen Segen ins Ohr. Freude legte sich über ihr Gesicht, während sie ihn sanft entließ und seinen Blick auffing. Sie lächelten einander an.
Mithilfe seiner Seligpreiser trat der Patriarch zurück und gab ihnen die Gelegenheit, Rhapsody zu begrüßen.
Plötzlich zuckte er heftig zusammen und brach in den Armen der Seligpreiser zusammen. Ein Schrei erhob sich aus der Menge.
Grunthor reagierte blitzartig und warf sich zwischen Rhapsody und den Aufruhr. Er wusste, dass man nicht so stürzte, wenn der Körper versagte, und verfluchte still Achmeds Wahl des Zeitpunkts. Obwohl er ihn nicht sehen konnte, wusste er, dass es sein Werk war.
»Zurück, Euer Majestät«, sagte er höflich. Er spürte, wie sie hochgehoben wurde, als Anborn hinter ihm hervorwirbelte und sie auf den hinteren Teil des Podestes stellte. So brachte er seinen eigenen Körper zusätzlich zwischen sie und die Menge. Grunthor war froh, dass sie aus der Schusslinie war. Er bahnte sich den Weg in die kleine Gruppe entsetzter Seligpreiser, die sich um den Zusammengebrochenen drängten.
»Lasst mich mal«, sagte er grob. Rasch und mühelos hob er den sterbenden Patriarchen vom Boden auf und trug ihn zu einem Tisch in mehreren Schritten Entfernung, auf dem Staatsgeschenke gestapelt waren. Mit dem Ellbogen wischte er den Tisch leer und legte den alten Mann wie eine Feder darauf. Dabei entfernte er den schweren Pfeil aus seinem Nacken, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wie Grunthor gehofft hatte, folgten ihm alle Seligpreiser, beteten für ihren gefallenen Anführer, kümmerten sich um ihn, und einige brachen gar in Tränen aus.
Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair, war der Erste und flüsterte Worte des Trostes. Er kümmerte sich sogleich um den Sterbenden und untersuchte Herz und Handgelenke. Philabet Griswold und Nielash Mousa waren die Nächsten; beide schoben den ersten Seligpreiser zur Seite und flüsterten dem sterbenden Mann etwas ins Ohr. Sie baten ihn, das Bewusstsein wiederzuerlangen, damit er den Namen seines Nachfolgers sagen konnte. Abernathy und Ian Steward starrten benommen auf den Aufruhr; Abernathy murmelte stumme Gebete.