Orlando drängte wütend Mousa fort und machte sich wieder an die Arbeit. Enttäuschung schien seine Bewegungen zu hemmen; seine berühmte Heilgabe vermochte nichts zu bewirken. Er untersuchte die Brust des alten Mannes, öffnete die Robe besonders weit, befühlte die Handgelenke und war wütend und gereizt, statt sich in das Schicksal zu ergeben, als klar wurde, dass der Tod unmittelbar bevorstand.
»Zurück!« Die Stimme, klar wie eine Glocke, klang durch den Hof, und die Menge verstummte vor Erstaunen. Rhapsody benutzte Anborn, um an den Seligpreisern vorbeizukommen, und begab sich sofort an die Seite des Patriarchen, der noch immer auf dem Tisch lag. Grunthor unterband sofort jeden Versuch, sich dem Würdenträger von der anderen Seite zu nähern. Rhapsody sah ihre Kammerfrau an.
»Sylvia, hol sofort meine Harfe.«
Die Kammerfrau tippte einem Pagen auf die Schulter und zeigte mit dem Finger an, wo er hingehen sollte. Er schoss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Die neue Königin beugte sich über den hinfälligen Mann, der auf dem Tisch zusammengekrümmt wie ein aus dem Nest gefallenes Küken lag, und ergriff seine Hand.
»Euer Gnaden, habt Ihr diesen Männern etwas zu sagen?«
Sie nickte den Seligpreisern zu. Der alte Mann blinzelte und schüttelte mit großer Anstrengung den Kopf. Mit zitternder Hand fuhr er unter seine Robe und tastete unbeholfen umher, dann zog er eine Pergamentrolle hervor und drückte sie ihr in die Hand. »Sehr gut. Anborn, bitte geleite die Seligpreiser an einen Ort, wo sie ungestört beten können.«
Der cymrische Krieger trat vor den Tisch und trieb die Seligpreiser zu einer dicht gedrängten, protestierenden Menge zusammen. Er führte sie hinaus und achtete nicht auf ihre Bitten, zu dem sterbenden Anführer durchgelassen zu werden.
Der Patriarch deutete wortlos auf die Pergamentrolle in Rhapsodys Hand. Sie hielt sie ihm vor die Augen.
»Wollt Ihr, dass ich das laut vorlese?«, fragte sie ruhig. Der Patriarch nickte.
»Sehr gut«, sagte sie. Sanft ließ sie seine Hand los, die ihre eigene noch immer im Krampf des nahenden Todes umfasst hielt, und entrollte das Pergament.
»Hört mich an«, sagte sie. Die Stimme der Benennerin trug weit. »Hiermit gebe ich das letzte Sendschreiben des Patriarchen von Sepulvarta bekannt. Es besagt: Im Fall der Amtsnachfolge sollen der Ring und die Waage entscheiden.«
In der Menge setzte lautes Murmeln ein, während die Seligpreiser in entsetztem Schweigen gefroren und abwechselnd wutrot und schreckensbleich wurden. Einen Moment später kehrte der Page mit Rhapsodys Harfe zurück. Er hielt sie hoch; sie wurde von Hand zu Hand bis zu Anborn weitergereicht, der sie der Königin übergab.
»Grunthor, kannst du mir hinauf helfen?«, fragte sie und deutete auf den Tisch. Der Bolg hob sie mühelos auf die Tischplatte, wo sie sich neben den Patriarchen setzte und seinen Kopf und die Schultern auf den Schoß nahm. Sie machte es ihm so bequem wie möglich und begann mit ihrem leisen Harfenspiel, wobei sie darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. Der alte Mann lächelte sie an. Und schließlich sprach er.
»Es ... es tut mir Leid, mein Kind«, keuchte er und rang nach Luft. »Ich wusste nicht, dass es ... jetzt kommen würde. Ich hatte nicht vor, dir das Fest... zu verderben ...«
»Ihr habt nichts verdorben«, versicherte ihm Rhapsody. »Euch das Totenlied zu singen und Eure letzten Worte hören zu dürfen ist eine große Ehre für mich. Ich will sie allen verkünden und den Überlieferungen hinzufügen, damit sie und das Angedenken an Euch ewiges Leben haben. Dass wir beide in dem Augenblick zusammen sind, da Ihr uns in Richtung auf das Licht verlasst, ist das größte Geschenk, das Ihr mir je machen konntet. Ruht Euch aus.« Sie unterbrach ihr Spiel nur so lange, bis sie ihm das Büschel silberner Haare aus den Augen gestrichen hatte, die trübe wurden und die Sonne widerspiegelten. Dann zupfte sie wieder die Saiten der Harfe und sang eine süße, wortlose Melodie.
Der Atem des Patriarchen kam stoßweise. Rhapsody hatte genug Leute sterben gesehen und wusste, dass es nun so weit war. Sie beugte sich zu seinem Ohr hinunter. Eine Träne aus ihren glitzernden grünen Augen fiel auf sein Gesicht.
»Meine letzten Worte sprich sie für mich«, flüsterte er. »Du... kennst sie.«
»Ja«, erwiderte sie. Sie legte dem Sterbenden die Hand auf die Brust und ließ seine Stimme durch ihre eigene klingen; sie war nun tief, voll und wohltönend, wie sie in seiner Jugend gewesen sein musste.
»Vor allem wirst du die Freude kennen lernen.«
Ein glückseliges Lächeln legte sich auf das Gesicht des Geistlichen. Er schloss die Augen. Rhapsodys Melodie wurde stärker, und als er den letzten Atemzug tat, begann sie mit dem lirinschen Lied des Übergangs. Sie sang es so innig wie möglich für den alten Mann, der den Klang der Harfe so sehr liebte.
Der wolkige Tag wurde etwas heller, als sich die Fesseln der Erde lockerten gerade lange genug, damit die Seele des Patriarchen hinüberwechseln konnte. Mit Ausnahme einer kleinen Welle aus Sonnenlicht bemerkte die Menge nichts von diesem Übergang, doch Rhapsody sah ihn und schickte einen Kuss in den Himmel. Dann sah sie hinüber zu den Segnern, die in verblüfftem Schweigen in der Ecke standen. Ian Steward und Colin Abernathy hielten einander die Hände; sie zitterten und waren blass. Lanacan Orlando stand schweigend da; sein Gesicht war eine unerschütterliche Maske, während Philabet Griswold und Nielash Mousa ihre Wut kaum beherrschen konnten.
»Euer Ehren, vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit, gemeinsam zu beten.«
Achmed goss sich ein besonders großes Glas canderianischen Whiskey ein und gab die Flasche an Grunthor weiter. Der Sergeant sah den König kurz an, setzte dann die Flasche an die aufgeworfenen Lippen und nahm einen tiefen Schluck.
Der Tag war albtraumhaft gewesen. Rhapsodys Fähigkeiten als Benennerin hatten dabei geholfen, die verängstigte Menge ruhig zu halten, und sie war bis nach Mitternacht im Hof geblieben und hatte die Trauernden getröstet und die Glückwünschenden begrüßt, die zu ihrer Krönung angereist waren. Nun nahm sie ein Bad und hoffte, die Auswirkungen des Chaos abwaschen zu können, das ihre Krönungszeremonie gewesen war. Ihre Firbolg-Freunde saßen in ihrem Gemach vor dem Feuer und unterhielten sich über die nächsten Schritte, bevor sie zurückkam.
»Glaubst du, sie hat den Pfeil nicht bemerkt?« Achmed nahm einen weiteren Schluck und biss die Zähne zusammen, als die brennende Flüssigkeit seine Kehle herunterrann.
»Eindeutig nicht«, sagte Grunthor und setzte die Flasche noch einmal an. »Sie glaubt, der alte Ziegenbock is einfach so zusammengefallen, was ja schon monatelang zu erwarten war.«
»Gut. Wir sollten sie in diesem Glauben belassen. Ich bezweifle, dass sie es gut fände, wenn sie erfährt, dass der Tod ihres Freundes ein Ablenkungsmanöver war.« Er bemerkte eine Verfinsterung auf Grunthors Gesicht, doch der Riese sagte nichts.
Einen Moment später betrat Rhapsody das Hauptzimmer in ihrem Morgenmantel, mit nassem Haar und einem Badetuch in der Hand. Sie ging zum Feuer, das aufloderte, als sie sich ihm näherte, und beugte sich darüber, während sie sich die Haare mit dem Badetuch abtrocknete. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Die halb trockenen Locken peitschten ihr um das Gesicht, das rosig vom Bad und dem Feuerschein war. Dann kam sie zu Grunthor und nahm ihm die Flasche aus der Hand. Sie trank einen Schluck und gab sie ihm zurück. Dann setzte sie sich auf seine Knie.
»Bald will keiner mehr auf eine Feier kommen, die ich ausrichte«, sagte sie. Grunthor kicherte; Achmed lächelte nur. Seine Augen verdunkelten sich. »Vielen Dank für all eure Hilfe heute. Ohne euch hätte ich das nie durchgestanden.«
»Es war noch ein wenig schlimmer, als du weißt«, sagte Achmed, schluckte den Rest seines Whiskeys hinunter und goss sich ein weiteres Glas ein. »Unser Freund aus der Gruft der Unterwelt hatte sich entschlossen, an deiner Feier teilzunehmen.« Rhapsody sah ihn fragend an. »Ich habe heute herausgefunden, wer der F’dor ist.«