»Rial, was um alles in der Welt geht hier vor?«
Rial drehte sich zu ihr um, ergriff rasch ihren Arm und führte sie von der Menge fort. Sie gingen bis zur gekrümmten Mauer des Wachtturms. Als sie außer Sichtweite der Menge waren, nahm er ihre Hand und küsste sie.
»Guten Morgen, meine Dame.« Er lächelte auf sie herab, und sein ältliches, runzliges Gesicht nahm jenen freundlichen Ausdruck an, der Rhapsody so lieb geworden war. »Ich hatte geglaubt, Ihr wäret auf dem Übungsplatz.« Sein Atem bildete eine eisige Wolke in der Luft zwischen ihnen.
»Das war ich auch, aber ich ertrage nicht viel körperlichen Missbrauch. Hiledraithe und Kelstrom haben heute ein besonderes Vergnügen darin gesehen, mich zu unterwerfen. Was ist los? Wer sind diese Leute?«
Rial seufzte. »Freier, Euer Majestät.«
»Freier? Freier für wen? Du hast mir doch gesagt, dass die Lirin keine Hochzeitslotterie haben und die Frauen ihre Männer frei wählen können.«
»Das können sie auch, Euer Majestät. Diese Männer halten um Eure Hand an, oder es sind Abgesandte derjenigen Adligen, die um Euch zu werben gedenken.«
Rhapsody ging bis zum Rand des Turms und spähte um die Ecke. Die Reihe war noch länger geworden, und der Lärm war ohrenbetäubend.
»Das kann doch nur ein Witz sein«, sagte sie und starrte die Menge an. »Das sind ja Dutzende!«
»Hunderte, würde ich vermuten. Es tut mir sehr Leid, Euer Majestät. Ich hatte gehofft, Euch ihren Anblick ersparen zu können.«
Rhapsodys Gesicht verfinsterte sich vor Entsetzen. »Das verstehe ich nicht, Rial. Warum sind sie hier, vor allem an einem so kalten Tag? Ich habe nicht gesagt, dass ich einen Mann suche, oder?«
Rial bot ihr seinen Arm an; sie nahm ihn, und er führte sie zurück zum Palast. »Nein, Rhapsody, aber sie sind hinterhältig. Gewöhnlich hätten wir in den ersten Jahren ein paar von ihnen gesehen, die sich mit Tyrian durch eine Staatsheirat verbinden wollen. Eigentlich sind die Ersten immer die Adligen der älteren lirinschen Häuser, weil sie es zuerst erfahren, wenn eine neue Monarchin gekrönt wird. So war es zumindest in der alten Zeit bei Königin Terrell. Damals war mein Vater Page, und er hat mir die Szene oft beschrieben. Anscheinend kam etwa ein Dutzend zur Palastmauer und wartete die ganze Nacht nach ihrer Krönung. Tagelang schwirrte der Palast vor Aufregung.
Aber das ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit unserer Situation. Viele da draußen sind nicht einmal Lirin. Es sind Regenten anderer Länder, einige kommen sogar aus Hintervold. Zweifellos wollen sie ihre Reiche mit dem Euren verbinden. Aber wenn Ihr mich fragt, vermute ich, dass sich die Neuigkeit aus anderen Gründen verbreitet hat. Ich nehme an, es hat mehr mit Euch selbst zu tun als mit dem Verlangen, über Tyrian zu herrschen.«
»Was willst du damit sagen? Keiner dieser Männer kennt mich; wenigstens sehe ich niemanden, dem ich schon einmal begegnet wäre.«
Rial kicherte. Langsam gewöhnte er sich an ihr Selbstbild, das ihn wahrlich belustigte. »Es wäre doch möglich, dass einige Dinge an Euch die Neuigkeit schneller weitergetragen haben, als es sonst der Fall gewesen wäre.«
Rhapsody erzitterte. »Was haben sie mitgebracht? Etwa das Brautgeld?«
»Eigentlich nicht. Es sind Staatsgeschenke wie die, die Ihr anlässlich Eurer Krönung erhalten habt, aber diese hier sind wertvoller. Wenn Ihr einen Gatten wählt, wird der Tradition gemäß sein Geschenk in der Großen Halle ausgestellt; das ist eine Art Verlobungsanzeige. Die übrigen Geschenke werden Teil Eures Vermögens und der Staatskasse von Tyrian. Daher könnt Ihr Euch vorstellen, welch ein Wettbewerb darin besteht, ein Geschenk zu haben, das Euch beeindruckt, den guten Geschmack des Schenkers zur Geltung bringt und den Reichtum des Landes aufzeigt, aus dem der Bewerber kommt.«
Rhapsody machte ein düsteres Gesicht. »Gib die Geschenke bitte zurück und schick die Männer heim, Rial. Ich will nicht jetzt schon Bewerber um meine Hand empfangen.«
Als sie die Palastrotunde betraten, blieb Rial stehen, ergriff ihre Hände und blickte sie ernst an. »Davon rate ich Euch ab, Euer Majestät«, sagte er sanft und versuchte, sie nicht wütend zu machen. »Das würde als große Beleidigung verstanden. Es ist besser, die Geschenke anzunehmen und die Bewerbungen zu verzeichnen, so wie es die Schreiber tun. Dann werden die Männer in ihre Länder zurückkehren und Eure Einladung an jene abwarten, deren Werbung Ihr entgegennehmen wollt. Auf diese Weise können Eure Wünsche erfüllt werden, und das Heer muss nur diejenigen abwehren, die vielleicht etwas ungeduldig werden.«
Selbst im Licht der fauchenden Flammen des großen Kamins erkannte Rial, dass Rhapsodys Gesicht blass wurde. »Was soll das heißen? Willst du damit andeuten, dass sie möglicherweise Tyrian angreifen, wenn ich ihre Bewerbung nicht annehme?«
Rial hielt eine vorbeihuschende Dienerin an. »Bring Ihrer Majestät bitte etwas Apfelwein«, sagte er. Das Mädchen nickte und eilte davon. Er führte die Königin näher zum Feuer und setzte sich mit ihr auf die breite Bank vor dem Kamin.
»Bis Ihr heiratet und damit die Möglichkeit für alle anderen Bündnisse ausschließt, ist es möglich, dass einige der Regenten den Versuch machen, Eure Entschlossenheit mit Gewalt auf die Probe zu stellen. Macht Euch keine Sorgen, Herrin. Das ist unwahrscheinlich, wenigstens eine Zeit lang, und das lirinsche Heer wird mit ihnen fertig werden, da Ihr jetzt alle Gruppen vereinigt habt. Euch gehört nicht nur die Loyalität der Soldaten, sondern auch ihre Herzen, und sie werden freudig Euer Recht verteidigen, zur gegebenen Zeit einen Mann zu nehmen. Tyrian ist ein Albtraum für Angreifer, und die Verluste auf ihrer Seite werden unsere bei weitem übersteigen. Da muss jemand schon ein ernsthaftes Verlangen haben, bevor er versucht, in den Wald einzudringen. Also macht Euch bitte keine Gedanken. Lasst Euch Zeit. Es ist eine wichtige Entscheidung, die Ihr in Ruhe und Frieden treffen solltet.« Die Dienerin kehrte mit einem schweren Kelch zurück und bot ihn Rhapsody an. Sie nahm ihn wie betäubt entgegen. Mit einer höflichen Geste entließ Rial die Dienerin und sah der Königin ins Gesicht. Er beobachtete fasziniert, wie sich der unbedachte Glanz in ihren Augen zu einer Maske der Entschlossenheit verhärtete. Sie hob den Kelch und nahm einen Schluck.
»Ich werde deinem Rat folgen, Rial, wie immer«, sagte sie fest. »Bitte schicke einen Boten in mein Arbeitszimmer, sobald es dir möglich ist. Ich muss eine Botschaft versenden.«
»Das war eine wunderbare Mahlzeit«, sagte Anborn, trank den Rest seines Weines und setzte den Kelch auf dem Tisch ab. Er warf einen Blick über den Balkon auf die kahlen, glitzernden Bäume, die sich über die reich verzierte Brüstung streckten. Der Tag war kühl gewesen, aber auf dem Balkon zu essen war angenehm und eine erfrischende Abwechslung zu dem schweren Rauch der Winterfeuer.
Er war froh, dass er so früh auf Rhapsodys Einladung reagiert hatte. Gewöhnlich ließ er solche Einladungen lange unbeantwortet, weil er es liebte, sich verhasst zu machen. Aber er war glücklich über die Möglichkeit, Rhapsody allein zu sprechen und sich ein Bild von ihrer Gesundheit und geistigen Verfassung zu machen, was während der Krönung unmöglich gewesen war. Es schien ihr viel besser zu gehen, als er nach ihren Erlebnissen in Sorbold und dem Wald für möglich gehalten hätte, aber sie war schließlich bei den Rowans gewesen und hatte zweifellos dort viel mehr Zeit verbracht, als der Rest der Welt bemerkt hatte.
Bei der Begrüßung hatte sie das Diadem getragen. Fasziniert hatte er gesehen, wie es über ihrem Kopf schwebte und in einem gleißenden Nimbus aus winzigen Juwelen wirbelte, die wie glitzernde Lichtpunkte wirkten. Sobald sie aber allein waren, hatte sie das Diadem ausgezogen und wurde nun nur noch von ihrem prachtvollen Haar bekrönt, das zu verwickelten Mustern gesteckt war, die nur geübte lirinsche Hände weben konnten. Sie leistete beim Essen wunderbare Gesellschaft, unterhielt ihn mit amüsanten Geschichten und lachte unerschrocken über seine rohen Scherze. Trotzdem hatte sie eine Reserviertheit an sich, die er nicht genau festmachen konnte; es war, als fehlte ein Stück von ihr.