Oelendra hielt die Rolle hoch. »Sie ist von Achmed.«
Rhapsody nahm das Papier an sich, brach das Siegel und entrollte die Botschaft. Die spinnenartige Handschrift war unverkennbar, und die Firbolg-Sprache war in den alten Geheimcode eingebettet. Die Königin las das Dokument so schnell, wie sie es entschlüsseln konnte, und ließ sich dann auf die Bank vor dem Feuer sinken.
»Worum geht es?«
Sie schaute nicht auf. »Ich muss morgen früh nach Bethe Corbair abreisen.«
64
Oelendra schürte mit einem langen Stock die Glut und sah zu, wie die Funken in den Himmel stoben. Die kalte Luft war schwer von Feuchtigkeit, unter der ihre alten Wunden schmerzten, doch sie war inzwischen daran gewöhnt und achtete nicht weiter darauf. Stattdessen dachte sie an den alten Außenposten, der noch vor kurzer Zeit auf dieser Lichtung gestanden hatte. Von ihm waren nur der ausgebrannte Turm und verstreute Balken übrig geblieben, die früher das Dach getragen hatten.
Im früheren Innenhof stand immer noch der Baum. Er war wunderschön und unberührt vom Rauch und der Verwüstung, die das Haus verzehrt hatten. Eine kleine Harfe steckte in der Gabelung der Hauptäste und spielte eine sich ewig wiederholende Melodie. Oelendra erinnerte sich an damals, als der Turm erbaut worden war, und an die Zeiten, deren Sinnbild er war. Sie wandelte uralte Pfade entlang und sprach mit lange toten Freunden. Von fern fragte sie die Könige der Vorzeit, was aus ihrer edlen Linie geworden war. Sie warf den Zweig in die Flammen.
Ihr Gast war eingetroffen. Er stand am Rande der Lichtung; sein Gesicht wurde von dem schweren Mantel verborgen. In der einen Hand hielt er einen weißen hölzernen Stab, in der anderen Kirsdarke. Sogar in der Dunkelheit waren die blauen Ziermuster auf den Kräuselungen der flüssigen Klinge zu sehen. Oelendra fragte sich, wie lange er dort schon gestanden hatte. Sie lächelte einladend.
»Oelendra?« Die Stimme der schattenhaften Gestalt klang sanft.
»Du erinnerst dich also an mich?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab Ashe zu, als er das Schwert in die Scheide steckte und zum Feuer hinüberkam. »Zumindest nicht deutlich. Ich erinnere mich nur an deine Stärke und Freundlichkeit, die ich seit vielen Jahren in meinem Herzen bewahre. Ich schulde dir viel, aber ich fürchte, ich erinnere mich an kaum etwas außer verschwommenen, schmerzerfüllten Träumen. Als ich dich sah, erriet ich, dass du es bist. Es gibt nicht viele Leute, die wissen, dass ich noch lebe.«
»Ich war keiner von ihnen, bis Rhapsody es mir vor kurzer Zeit erzählte.«
Ashe klang überrascht. »Mein Vater hat es dir nicht gesagt?«
»Nein, und auch Fürst Rowan nicht.«
Er trat in das Licht, das die Luft in der Nähe des Feuers umgab, schlug die Kapuze zurück und enthüllte damit sowohl sein kupferfarbenes Haar als auch die kleine Kristallkugel, die er um den Hals trug. Crynellas Kerze, dachte Oelendra. Es war die alte Verbindung von Feuer und Wasser, die von der schon lange verstorbenen Königin von Serendair für ihren seefahrenden Liebhaber erschaffen worden war und nun die Kehle eines anderen verlorenen Seemannes zierte, verliehen von der Hand einer anderen Seren-Königin. Die Kugel schimmerte durch den Dunstmantel wie ein Leuchtfeuer durch den Nebel. Ashe war schöner, als Oelendra ihn in Erinnerung hatte, doch das überraschte sie nicht. Bei ihrem letzten Treffen hatte er sich an der Schwelle des Todes befunden.
»Du siehst gut aus«, sagte Oelendra, während sie ihm mit einer Geste bedeutete, Platz zu nehmen. Ihre Stimme klang barsch; das Willkommenslächeln war zu reiner Höflichkeit verblasst.
»Und du siehst besorgt aus.« Er trat über den Stamm eines vor langer Zeit umgestürzten Baumes und setzte sich darauf. Der Feuerschein glänzte rotgolden auf seinen Haaren. »Was ist los? Warum hast du mich herbestellt?«
»Ich war der Meinung, die Ruinen dieser alten Festung seien ein passender Ort für unser Treffen.«
»Kann ich etwas für dich tun?«
Die lirinsche Kriegerin schaute ihn nachdenklich an. »Möglicherweise. Ich komme im Auftrag meiner Königin.«
Ashe lächelte und erinnerte sich an die berüchtigten Worte, die sie der Legende nach lange vor seiner Geburt zu seiner Großmutter gesagt hatte. »Ich war der Meinung, du dienst nicht einem Herrscher, sondern einem Volk.«
»In meiner Königin sind beide vereint.«
Er nickte. »Gut. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass sich die Zeiten ändern. Sicherlich wäre es eine Veränderung hin zum Besseren.«
»In der Tat.« Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und bot sie danach ihm an.
»Offenbar versteckst du dich nicht mehr. Ist das ein Anzeichen dafür, dass du dich auf die Stellung eines Herrschers vorbereitest?«
Ashe schüttelte den Kopf und lehnte das Wasser ab. »Diese Stellung wird verliehen; man kann sie sich nicht nehmen.«
»Deine Großeltern waren anderer Ansicht.«
»Ich bin nicht meine Großeltern.«
Die lirinsche Kampfmeistern beobachtete den Mann auf der anderen Seite des Feuers eingehend. Sie sah ihn nicht unmittelbar an; sie machte nicht den Fehler, in die Augen eines Drachen zu schauen. Sie war ein wenig überrascht, dass er nicht versuchte, ihren Blick auf sich zu lenken, so wie es seine Großmutter immer getan hatte. Oelendra hatte sich oft gefragt, welche Rolle die Drachenhaften Augen der Seherin bei ihrer Erwählung als Hofdame gespielt hatten. Anwyn hatte den Leuten immer in die Augen geschaut und versucht, sie in sich hineinzuziehen, wenngleich nur wenige dies bemerkt hatten. Oelendra hatte diesem Blick widerstehen können und sowohl ihre Lockungen als auch ihren Hass ertragen. Erfreut stellte sie fest, dass Ashe ihren Willen nicht auf die Probe stellte, und sah fort von ihm, indem sie sich wieder dem Feuer zuwandte.
»Ich hoffe es«, sagte sie nach einer Weile. »Aber davon muss ich mich persönlich überzeugen.«
»Du hast das Recht, mir und meiner Abstammung zu miss trauen«, meinte Ashe geduldig. »Sicherlich hat dir meine Familie nie einen Grund gegeben, ihr zu vertrauen. Ich hoffe, es dir durch meine Taten beweisen zu können, falls du bereit bist, mich an ihnen zu messen.« Er zwinkerte ihr zu. Ihre silbernen Augen fingen das Licht des Feuers ein, als sie ihn unmittelbar anschaute. Mehr als nur eine Spur von Feindseligkeit lag in ihnen. Er räusperte sich, bevor er wieder mit ihr sprach.
»Ich habe meine Deckung nicht verlassen, um die Gewalt an mich zu reißen, sondern in der Hoffnung, den F’dor auszulöschen. Der Rakshas ist tot, Khaddyr ist tot. Was nun noch übrig bleibt, ist der Wirt des Dämons. Ich hoffe, ich kann seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen und ihn töten, indem ich mich offen zeige.«
»Glaubst du etwa, dass dir das ohne fremde Hilfe gelingt? Du bist allerdings sehr selbstsicher.«
Ashe fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf und glättete die Haare, die sich bei ihrem harschen Ton aufgerichtet hatten. »Ja, ich bin selbstsicher, aber ich bin nicht dumm. Mein Vater ist selten weit fort, und ich hoffe, bald wieder mit Rhapsody zusammen zu sein. Zusammen mit ihren Bolg-Freunden könnten wir siegreich sein.«
»Dein Vater? Ich hatte mich gefragt, ob er wirklich tot ist. Rhapsody hat nichts anderes gesagt, aber ich hatte bereits einen Betrug vermutet.«
»Er war notwendig.«
Oelendra lachte verbittert.
»In Ordnung«, gab Ashe gelassen zu, »vielleicht ist es genauer, wenn ich sage, dass es für ihn notwendig war.«
»Genauer und auch ehrenhafter, wenn man den Preis für diese Entscheidung bedenkt.«
Ashe sah fort. »Du hast Recht. Aber in gewisser Hinsicht ist er tatsächlich gestorben. Seine menschliche Seite ist vergangen; er hat ihr die Ruhe verschafft, nach der sie sich gesehnt hatte. Ich will dich aber nicht belügen, denn in Wirklichkeit war sein Tod eine Scharade, die bezwecken sollte, dass seine Feinde aus der Deckung kommen und er durch die Elemente des Feuers und Äthers zu seiner wahren Drachennatur findet, so wie ich es auch getan habe. Jetzt ist er mir nur selten fern. Er bleibt als Beobachter in den Schatten und wartet darauf, dass der F’dor den nächsten Zug macht. Aber heute Nacht ist er nicht hier. Ich hätte ihm nicht erlaubt, an diesem Treffen teilzunehmen.«