Ursprünglich hatte er geplant, sie bei ihrer Krönung in den Bann zu nehmen. Er hätte es versucht, wenn der alte Narr sich nicht entschlossen hätte, gerade in jenem Augenblick zu sterben. Doch als der Körper, den er seit Jahrzehnten bewohnte, jetzt plötzlich nutzlos wurde und versagte, dachte er daran, welche Macht ihm als lirinsche Königin zu Füßen liegen würde als Iliachenva’ar, als Frau von einer so engelsgleichen Schönheit, dass sie ganze Nationen mit einem Blick blenden konnte. Er hatte auch früher schon Frauen besessen, es aber enttäuschend empfunden, weil sie geringere gesellschaftliche Macht besessen hatten als die männlichen Wirte, in denen er gelebt hatte. Doch diese Frau war stärker als alle Wirte, in die er je eingedrungen war, seien es Männer oder Frauen. Erregung durchströmte ihn, als er sich darauf vorbereitete, seinen eigenen Tod vorzutäuschen, denn dann würde sie sich ihm nähern und ihn untersuchen. Er streckte die Hand aus und bereitete seinen Geist darauf vor, den Körper zu verlassen.
Das kratzende Geräusch entwickelte sich plötzlich zu einer Tonleiter aus sechs Noten und hing in andauernder Wiederholung rechts von ihm in der Luft. Lanacan spürte ein Gefühl der Beengung um ihn herum. Es legte sich um ihn wie eine zudrückende Faust, und Herz, Lunge und Brust wurden in einen Schraubstockhaften Griff genommen. Mit großer Anstrengung drehte er sich den Lauten zu.
Dort stand eine große, scheußliche Gestalt in einer schwarzen Robe und sang das quälende Lied. Ihre Laute waren von einem Klicken und einem insektenhaften Summen aus den Tiefen der Kehle begleitet und drangen aus Lippen, die krampfhaft versuchten, nicht zu lächeln. Die dünne, behandschuhte rechte Hand hob sich langsam und blieb mit der Handfläche nach oben steif vor Lanacan in der Luft hängen. Die Lösung von dem menschlichen Körper, die er auf metaphysische Weise bereits begonnen hatte und die nach dem immer gleichen Muster ablief, kam sogleich zum Stillstand.
Die linke Hand des Geschöpfes, die ebenfalls verhüllt war, streckte sich neben Lanacan aus. Die Finger pulsierten im Rhythmus des dämonischmenschlichen Herzens. Jedes Zucken der Finger bereitete ihm schreckliche Schmerzen. Dann drehte sich die Hand langsam und wickelte sich Lanacans metaphysische Schlingen wie das Seil eines Segeldrachens um die Finger. Die Gestalt zerrte an ihm und zog die vier Winde zu einem erstickenden Netz zusammen. Sie würgte Lanacan mit der ganzen Macht der physischen und metaphysischen Welt.
Der Seligpreiser schrie auf. Er konnte sich nicht mehr bewegen, konnte nicht fliehen. Er war gefangen.
»Lass mich raten. Du hast zwar schon von den Dhrakiern gehört, bist aber noch nie einem begegnet, richtig?«
Lanacans Augen waren das Einzige, was er noch bewegen konnte. Sie schössen zur anderen Seite. Dort stand, einen Schatten über den ganzen Altar werfend, ein gewaltiges Ungeheuer in voller Rüstung, mit Schwertern und Streitäxten bewaffnet. Dieses gigantische Monstrum war das Mitglied der königlichen Ehrengarde, das den Patriarchen aus dem Weg gezogen und Lanacan davon abgehalten hatte, weiter nach dem verlorenen Ring zu suchen, der das Amt des Sterbenden symbolisierte.
Mit zwei Schritten war der große Bolg über ihm, drehte ihm die menschlichen Arme auf den Rücken und brachte ihn in eine noch unbeweglichere Lage. Der Riese hob ihn vom Boden. Schmerzen brandeten durch den Wirtskörper, der jetzt genauso gefangen war wie seine dämonische Seele.
»Weißt du, ich hab ja nich so viel Ahnung, aber die Dhrakier sehen Dämonenabschaum wie dich als Appetithäppchen an«, sagte der Bolg freundlich. »Doch für mich bist du die Nachspeise.«
Wut tobte durch das Herz des Seligpreisers. Das Straßenkind namens Jo, das für einige Zeit in seinem Bann gewesen war, hatte dem Rakshas von dem Riesen und dem König erzählt, aber nur gesagt, beide seien Firbolg. Offenbar hatte sie nichts von der Existenz der dhrakischen Rasse gewusst und erst recht keinen ihrer Angehörigen erkennen können, vor allem nicht, wenn es sich um einen Mischling handelte. An diesem besonderen Dhrakier war irgendetwas Vertrautes eine Macht, der man nicht trotzen konnte.
Lanacan wusste, dass der Kampf sinnlos war. Rasch überdachte er die Lage und suchte eine verwundbare Stelle und einen Weg, den Spieß umzudrehen. Er schaute vom Allerheiligsten auf die kleine Frau, die jetzt still den Gang hinunterschritt und sich ihm näherte. Innerlich lächelte der Seligpreiser.
Es war an der Zeit, die Trumpfkarte auszuspielen.
»In Ordnung, meine Liebe«, sagte der Riese zu der lirinschen Königin, als sie dem rechteckigen Allerheiligsten näher kam. »Reiß ihm das Herz raus. Ich sterb vor Hunger.«
Rhapsody legte die Kapuze ab. Die winzigen Sterne in der Lirin-Krone, die unter dem Stoff des Mantels verborgen gewesen waren, wirbelten in dem sauberen Wind, der vom Glockenturm herabwehte, über Rhapsodys Kopf. Trotz ihrer Entfernung von dem Seligpreiser, der sich in Grunthors zerquetschendem Griff befand, sah sie, wie das Licht der gleißenden Diamantsplitter in seinen Augen glitzerte. Die F’dor fürchteten Diamanten, doch es gelang ihr nicht ganz, das Blinken in seinen Augen als reinen Schrecken zu deuten. Für sie wirkte es eher wie Erregung.
Sie ging langsam auf die Apsis zu. Ihr Herz klopfte so laut, dass bestimmt alle drei Männer es hören konnten.
Der Seligpreiser sah vom Allerheiligsten auf sie herab. Seine gefangene Hand schwebte wie beim Beginn des Bannrituals vor ihm. Zweifellos hatte er vorgehabt, das schwarze Feuer auf sie herabzurufen. Dazu würde es nun nicht mehr kommen.
Der Dämon deutete mit einem Finger auf sie.
»Virack urg caz«, sagte er mit warmer, weicher Stimme, die kaum einen hörbaren Laut erzeugte. »Empfange.«
Tief in ihren Eingeweiden spürte Rhapsody ein Zucken und dann einen kneifenden Schmerz. Ihre Bauchmuskeln zogen sich zusammen und zwischen den Schenkeln fühlte sie etwas scheußlich Brennendes.
»Merlus«, flüsterte er. Seine Lippen bewegten sich nicht. »Wachse.«
Sie sprang unter dem Krampf nach vorn, der in ihrem Bauch ausbrach. Dann entspannten sich ihre Muskeln, und sie spürte, wie ein Gefühl von Kälte durch sie leckte. Es ging von ihrer Mitte aus und verbreitete sich in der ganzen Bauchhöhle. Rhapsody schüttelte das Gefühl ab und ging zu den Altarstufen hinüber.
»Du glaubst, du bist wütend auf mich, meine Liebe«, sagte die Stimme in ihrem Kopf. »Dabei ist es eigentlich Gwydion, den du verachten solltest. In gewisser Weise ist er es, der dich mir übergeben hat, und das weißt du noch nicht einmal.«
Rhapsody vertrieb die hasserfüllten Worte aus ihrem Kopf und ging weiter auf die Treppe zu. Sie richtete all ihre Gedanken auf Ashe auf das warme Zwinkern seiner Drachenhaften Augen, auf die Sanftheit seines Lächelns. Sie versuchte, nicht an die Tiefen seines Leides unter den Händen des Seligpreisers zu denken, denn dann würde ihr Zorn zurückkehren, hinter ihren Augen brennen und sie für den höheren Zweck ihrer Mission blind machen. Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe.
»Du glaubst, er sei mein Opfer, nicht wahr? Du könntest dich nicht stärker irren. Seine Seele war ein williger Gefangener. Es war überhaupt nicht schwer, ihn zu beeinflussen. Dein Geliebter ist ein sehr kreativer und kluger Mann, aber ich bin sicher, dass ich dir das nicht erst sagen muss. Vieles von der Neigung des Rakshas zu Vergewaltigung und ritueller Folter floss aus der Inspiration seiner Seele. Wusstest du das? Da ich ein zölibatärer Geistlicher bin, konntest du doch nicht im Ernst annehmen, dass ich ihm seine sexuellen Kenntnisse vermittelt habe, oder? Nein, das war alles Gwydions Werk.«
Die Augen des alten Mannes in Grunthors Griff blinzelten böse.
»Welche Freuden seine verdrehte Seele meinem Spielzeug doch geschenkt hat, als es noch lebte! Besonders hat der Rakshas es genossen, deine Schwester zu vergewaltigen. Sie war ein so williges Opfer. Sie hat sich einfach ins Gras gelegt und die Beine breit gemacht. Sie hat nicht so gehandelt wie die anderen. Sie wollte ihn, meine Liebe. Das sollte dir wenigstens etwas Trost spenden, wenn du ihren unzeitigen Tod betrauerst. Sie hat ihre eigene Vergewaltigung genossen.