Hör auf.
Als ihr Ashes Worte über die Unsterblichkeit in den Ohren klangen, fragte sich Rhapsody, ob es ihr wohl auch bestimmt war, dieselben glücklichen Momente mit ihm immer wieder durchleben zu dürfen. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte des Dämons.
Du wirst eine wunderbare Mutter abgeben, Rhapsody, wenigstens während sich das Kind in deinem Leib befindet. Es ist eine Schande, dass du die Geburt nicht überleben wirst.
Vielleicht war die Einsamkeit der Unsterblichen doch keine so schreckliche Sache.
Ich bezweifle, dass ich lange genug lebe, um das Ende der Ereignisse mitzubekommen, und unsterblich bin ich erst gar nicht.
Achmeds Stimme sprach zu ihr durch die Dunkelheit ihrer Erinnerungen.
Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie taumelt durch den Äther auf ein Ziel zu, das nicht einmal die Götter kennen, und trägt tief in ihrem Herzen das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter sein kann.
Genau wie ich, dachte sie mürrisch.
Als Rhapsody schließlich das Nest im verlorenen Meer verließ, um auf ihre letzte Mission zu gehen und die Menschen dieses neuen Landes zu vereinigen, weinte Elynsynos.
Nach einigen Wochen wilder, gedankenloser Reise traf die Sonne Rhapsody an, wie sie auf dem Kamm des cwm saß. Der Große Gerichtshof des cymrischen Konzils war früher ein Gletschersee gewesen, gebildet von gefrierendem Wasser und tauendem Eis an den Hängen der Zahnfelsen, als diese noch jung waren. Der Gletscher hatte die Senke des Gerichtshofes als Gefäß für die schmelzenden Tränen der großen Mauer aus kriechendem Eis ausgehöhlt. Als sich das Land erwärmte, war der See entweder in die Erde gesunken oder hatte sein Wasser in den warmen Himmel geschickt und das Amphitheater in den Bergen zurückgelassen. Es war ein Ort tiefer Kraft. Rhapsody spürte sie, als sie auf dem Kamm saß, in die Senke schaute und zusah, wie die Morgendämmerung den Gerichtshof mit rosigem Licht erfüllte.
Während sie sich im Nest der Drachin aufgehalten hatte, war der Frühling ins Land gezogen. Als sie in die Welt zurückgekehrt war, war der Schnee geschmolzen, und die Bäume erwarteten das Aufbrechen der Knospen. Die Staubwüstenei, die im Sommer den Grund der Senke beherrschte, war jetzt üppig begrünt. Frisches Frühlingsgras bildete einen grünen Teppich auf dem Grund, der sich bis zu den terrassenförmigen Wänden hochzog. Der seit Jahrhunderten verlassene Ort wartete wie in Vorfreude.
Als das hellgoldene Licht des oberen Sonnenbogens den Horizont berührte, schaute Rhapsody hinter sich, denn sie spürte, wie ein Schatten auf ihre Schulter fiel. Es waren die anderen beiden Drittel der Drei. Sie hatten nicht vergessen herzukommen.
Schweigend standen sie hinter ihr und sahen sich um. Rhapsody blieb sitzen und beobachtete, wie das Morgenlicht auf die seltsamen Felsvorsprünge fiel, welche das natürliche Rund des Gerichtshofes bildeten. In Gwylliams Manuskripten waren die beiden bedeutendsten Merkmale dieses Ortes beschrieben. Das erste wurde die Rednerkanzel genannt; dabei handelte es sich um eine hohe Kanzel aus Kalkstein, die vor Jahrmillionen von einem Gletscher geformt worden sein musste. Die unregelmäßige Erosion hatte einen gewundenen Weg geschaffen, der sich spiralförmig bis zur Spitze zog, auf der ein Redner aufrecht stehen und von der ganzen Versammlung gesehen werden konnte. Außerdem war der Redner überall im Gerichtshof deutlich zu hören, was der außergewöhnlichen Akustik des Ortes zu verdanken war.
Die zweite Besonderheit war als Rufersims bekannt. Es war eine lange und breite Steinplatte, die völlig flach war, aber einen einzelnen Vorsprung in Form einer Kanzel aufwies und auf dem höchsten Hügel der Umgebung über zwei großen Felsen lag. Von diesem Aussichtspunkt aus überblickte man die ganze orlandische Ebene sowie den gesamten Gerichtshof und hatte die Schatten der Zahnfelsen im Rücken. Es war die beste Stelle, von der aus man einen Ruf entsenden konnte, der weit über das Land hallen und sogar in der Erde selbst weiter schwingen sollte. Alle, deren Vergangenheit und Zukunft mit dem Hörn verbunden war, wären in der Lage, diesen Ruf zu hören. Rhapsody erschauerte. Es war ein langer, gefährlicher Weg bis zu diesem unsicher wirkenden Ort, und ein noch längerer Weg nach unten, wenn man dort das Gleichgewicht verlor.
Die Senke selbst war gewaltig; sie war größer als die Arena in Sorbold. Was die Natur hier nicht vollbracht hatte, hatten die Cymrer vollendet. So viele Jahrhunderte waren vergangen, seit sie zum letzten Mal als Versammlungsort gedient hatte, dass es inzwischen kaum mehr möglich war herauszufinden, was den Naturkräften und was Menschenhand zuzuschreiben war. Eine Reihe aufsteigender Simse war rund um die Senke in den Fels geschlagen und folgte den Gletscherlinien. Hier konnten Tausende Platz finden. Aus einigen Bereichen an den Seiten der Senke waren Keile herausgeschlagen, durch die man den Gerichtshof betreten und verlassen konnte. Obwohl dieser Ort überwuchert und von allem außer der Zeit selbst vergessen war, handelte es sich doch um den idealen Platz für eine Zusammenkunft. Die Luft hier war schwer vor Feuchtigkeit und bösen Vorahnungen.
»Fertig, Herzogin?« Das tiefe Brummen von Grunthors Stimme zerschnitt die Luft und zerschlug die tiefe Stille.
»Ich glaube ja«, sagte sie und schaute nach Osten, wo sich der untere Rand der Sonne gerade über den Berg erhob.
»Das ist ermutigend«, meinte Achmed mit einem schiefen Grinsen. »Du bist die Ruferin und weißt nicht einmal, ob du es sein willst? Warum machen wir es dann überhaupt?«
»Weil es an der Zeit ist«, erwiderte Rhapsody mit einem tiefen Seufzer, während sie aufstand.
»Roland wie auch Sorbold stehen kurz vor einem Krieg. Die Lirin sind wiedervereinigt, aber es gibt keinen einzelnen Anführer, der im Namen der Menschenreiche einen Vertrag mit ihnen garantieren kann. Der einzige Ort, der nicht kurz vor einem Blutvergießen steht, ist Ylorc.«
»Ironie des Schicksals.«
»Ich finde, das is traurig«, sagte Grunthor mit einem melancholischen Unterton. »Da hab ich nun ein Heer, auf das ich stolz sein kann, und keiner will mit mir spielen.«
Rhapsody klopfte ihm auf die Schulter. »Sieh es einmal so, Grunthor: Wenn die Cymrer einen Herrscher und eine Herrscherin wählen und das genauso gut machen wie bisher, wird es jede Menge Gelegenheiten für bewaffnete Auseinandersetzungen geben, und zwar mit einem größeren, mächtigeren Gegner. Dann hast du ganz Roland, Sorbold, Tyrian und vermutlich auch die Neutrale Zone zum Spiel.«
»Oje.«
»Wir sollten allmählich mit der Vorstellung beginnen«, sagte Achmed und reichte Rhapsody die schmale Kiste, in der sich das cymrische Hörn befand.
Rhapsodys Augen glitzerten im klaren Morgenlicht. »Wenn ich mich nicht irre, ist das Doktor Achmeds reisende Schlangenschau.« Sie warf einen Blick auf Grunthor; das war eine Anspielung auf eine Bemerkung, die er vor langer Zeit in der Wurzel gemacht hatte. Der Bolg-Riese grinste.
Sie öffnete die Kiste und nahm das Hörn vorsichtig heraus; dann kletterte sie langsam und vorsichtig auf die Spitze des Rufersimses. Die steinerne Kanzel warf im Morgenlicht einen langen Schatten.
Achmed und Grunthor folgten ihr hinauf. Einen Moment lang standen die Drei ehrfürchtig da. Der Ausblick vom Sims nahm sie gefangen. Vom Observatorium im höchsten Gipfel der Zahnfelsen aus hatte die ganze Welt unter ihnen gelegen. Auch hier, vom Rand der Senke aus, erstreckte sich eine ungeheure Weite vor ihnen. So weit das Auge reichte, gab es fruchtbares Land, braune bis schwarze Erde. Es war ein verblüffender Anblick. Rhapsody kam sich sehr klein vor. Ein starker Wind fegte über die Ebene unter ihnen und das Gesims. Es war ein klärender Wind, der den Geruch von Hoffnung und Schicksal in sich trug. Rhapsody schloss die Augen, hob das Hörn an die Lippen und blies hinein.
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Ein silberner Ton, wie von einem Jagdhorn, aber voller im Klang, zerriss die Luft und die Stille des Morgens. Er hallte von den Zahnfelsen und den niedrigeren Hügeln wider, rollte in einer Klangwelle über das Land und breitete sich aus wie Kräuselungen auf einer Wasseroberfläche. Rhapsody spürte, wie der Ton durch die Senke strömte. Er durchdrang die Sängerin und bildete ein Band zwischen ihren Füßen und dem Stein, auf dem sie stand. Plötzlich begriff sie, warum sie innerhalb von Canrif bleiben musste. Der Rufer war das Instrument, durch welches das Hörn in die Macht des Gerichtshofes eindrang. Es war wie der Ruf, den sie auf dem Wind vor langer Zeit zu Ashe geschickt hatte, um ihn zu ihr nach Elysian zu holen. Das Hörn verkündete einen zwingenden Befehl, welcher an die Person gebunden war, die es blies. Der Rufer war die Landmarke, wie das Leuchtfeuer in Elysian. Durch den Verbleib des Rufers innerhalb der Senke wurden die Schwingungen und der Ruf bewahrt, bis alle Cymrer eingetroffen waren. Sie waren ein unsichtbarer Faden, dem alle folgen konnten, um Canrif zu finden, denn sie verbanden sich untrennbar mit dem Herzen der Sängerin.