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Rhapsody schloss die Augen. Sie war mit dem Ruf verschmolzen, und ihr Geist folgte ihm, während er durch die Luft und Erde fuhr, über die orlandische Ebene hallte und bis in die hügeligen Steppen und Wüsten von Sorbold drang. Er tönte durch die Strömungen des Tar’afel und bis in die Wälder von Gwynwald und Tyrian, eilte über das Meer und stieß tausend Meilen entfernt mit den Wellen am Strand von Manosse zusammen.

Der Ruf verbreitete sich wie ein Befehl des Königs in jeder Seele, die sich im alten Land durch ihr Versprechen an das Hörn gebunden hatte vor all den schrecklichen Reisen, den Wanderungen durch die Wildnis, dem neuen Reich, vor Tod und Krieg. Das große Hörn schallte nur zu Anfang aus eigener Kraft durch die Luft, dann schien der Ton zu verblassen, so wie es bei jedem Hörnerschall üblich war. Doch Rhapsody wurde von der Welle davongetragen und hörte, wie der Ton neue Formen annahm. Er besaß eine uralte Magie, die aus ihm selbst hervorströmte.

Er ging von Hand zu Hand im Klimpern der Münzen, im Hämmern der Axt gegen den Baum, im Ruf des Eseltreibers und dem Knallen der Peitsche. Er rumpelte durch die Huftritte der Boten und wisperte in den Pfeilen der Jäger. Er wohnte im Knirschen des Sattels, des Mastes, der Radachse, dem Grunzen der Tiere, dem Feilschen der Kaufleute, dem Klirren der Schmieden und Knattern der Segel und trug den Ruf des Erbauer-Königs in jeden Blutstropfen, der ihm vor mehr als tausend Jahren beim Auszug Treue geschworen hatte. Der Ruf wogte und flog, reichte über den gesamten eroberten Kontinent und forderte die Erfüllung des Eides.

Jeder Ziegel, der in seinem Namen gelegt worden war, jeder für ihn eingeschlagene Nagel, jedes Artefakt, jedes Monument hallte von dem Ruf wider und brummte und summte. Als die Nacht hereinbrach, erstickte die gebieterische Stille alles: Wölfe, Wind und Wasser. Der Ruf aus Gwylliams Hörn vertrieb die Erschöpfung der vom Alter erstarrten Überlebenden der frühen Reisen. Müde Augen blinzelten plötzlich ihren Irrsinn fort. Kraftvoller Atem kehrte in die Lungen zurückgetretener Patriarchen zurück. Steife Finger dehnten sich und sehnten sich nach dem Gefühl alter Schwerter.

Jene, die den ursprünglichen Eid geleistet hatten, spürten ihn eher, als dass sie ihn hörten. Sie fühlten die Gegenwart des Königs. Sie erhoben sich, unterbrachen ihr Mahl, ihre Beratungen, ihr Bad. Als ob der Geruch und der Geist des Königs mitten unter sie getreten wäre, wurde das Gefühl vom Vater auf den Sohn wie mit einer Geste weitergegeben, nach einem Augenblick der Stille, der Erinnerung an die verlorene Vergangenheit. Es brauchte eine tiefe Gemütsruhe, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie alle auf die Pilgerschaft gerufen wurden.

Jene aber, die keine Blutsbande mit den Cymrern hatten, fragten sich verwundert, was die Erde für einen kurzen Augenblick in ihrem Lauf angehalten hatte ...

Während Rhapsodys Visionen am Beginn der Schallwelle dahinflogen, in den Ziegelglöcklein sangen, in den Eggen raspelten, wurde Achmed von dem Gefühl, dass sich die Luft in seiner Umgebung neu zusammensetzte, beinahe wahnsinnig. Die dünnen Vorhänge aus Wind, die er für gewöhnlich sah und durchschritt, wurden zu dichtem, ätherischem Seetang, der ineinander verschlungen war, an ihm klebte und zerrte und ihn atemlos machte, sodass er schwamm, wo er eigentlich hätte gehen sollen. Der Klang war nicht nur eine Kräuselung, sondern eine Fühlbarkeit, als wäre die Senke zu einem riesigen Magen geworden, zu einem Wyrm, der alles in sich einsaugte. Rhapsody war der leuchtende Mittelpunkt, der Köder, und Achmed trieb unstet und in der Größe von Plankton unter dem Ruf des Großen Siegels dahin, der womöglich weiter als das Tageslicht reichte.

Auch Grunthor spürte den Laut eher, als er ihn hörte, doch er reagierte nicht auf das Pulsieren in der Luft. Er folgte dem Widerhall durch die Erde. Wie ein Beben, das sich den Weg von einer Verwerfung bahnt, kroch er durch die Ebene eine sich ringelnde Schlange, begraben und aufgescheucht. Er raste und hämmerte, schmetterte durch das Gebirge hinter ihnen, laut, kreischend, als ob jede Stimme, jedes Geräusch aus den Bergwänden geklaubt und in die Luft geschleudert worden sei, doch keinen Ort hatte, an den es fliehen konnte.

Rhapsody wirkte fern und verloren. Achmed krümmte sich zusammen und lehnte sich gegen einen Stein der Plattform. Grunthor hielt sich die Hände gegen die Ohren; er hatte die Augen fest geschlossen, als die Stille in ihn eindrang. Der Ruf des Horns war verwirrend und eindringlich gewesen, doch das Warten auf Antwort bedrückte noch ärger. Es verwandelte Achmeds Blick von Wasser zu Eis.

Rhapsody spürte, wie jenseits des Meeres, im entferntesten Dunkel, welches der Klang erreicht hatte, hunderte verbliebener Cymrer, die tatsächlich noch auf das Große Siegel geschworen hatten, den Atem und das Leben anhielten, als ob sie mitten auf ihrem Weg in die alltägliche Zukunft von einer unsichtbaren Peitsche der Vergangenheit zum Stillstand gezwungen worden wären. Einige starben tatsächlich aus Angst oder vor Erleichterung. Der Rest atmete weiter, doch die allgegenwärtigen Gespräche wurden nicht mehr weitergeführt. Alle fünfzig Generationen wandten sich wie ein Mann um und wollten ihre Schulden begleichen. Dies war seit tausend Jahren erst das zweite Mal, dass sie den Ruf gehört hatten.

Die ursprünglichen Cymrer hörten den Ruf als Erste, doch die Söhne lauschten den Vätern, die Töchter den Müttern und spürten die Antwort, die sie zu geben hatten, nur Sekunden später. Jede der fünfzig Generationen empfand den Ruf als so drängend wie die Bedürfnisse, Hunger und Durst zu stillen, Wasser zu lassen, zu schlafen oder sich dem Tod zu beugen. Die Familien mit direkterer Abstammung fühlten die bevorstehende Reise und machten sich einmütig an die Vorbereitungen. Sie wussten, was sie erwarten konnte. Einige hatte man sogar darauf vorbereitet, dass der Ruf möglicherweise erschallen würde und zuvor Grauen und Untergang angekündigt hatte; dennoch war es ihnen bestimmt, auf ihn zu antworten. Sie standen so tief in der Pflicht des uralten Treueschwurs, dass ihnen keine andere Möglichkeit des Weiterlebens blieb.

Bastardlinien, vermischte Abstammungen, Einzelne ohne Überlieferungen und Interesse an ihrer Herkunft wurden gleichermaßen berührt. Das Blut begehrte auf und schwoll in den Adern an, war wie wolkensanfte Blitze, zernagte jedes Zögern, jeden Widerstand, sodass nur Tage oder Stunden zwischen dem unwissenden Abkömmling und seiner Reise standen. Überall auf dem Kontinent machten sich Männer, Frauen und Kinder auf die Pilgerfahrt. Sie gehorchten einem toten Herrscher.

Die jüngste aller cymrischen Linien hörte den Ruf als Letzte. Sie waren nicht langlebig, und die meisten von ihnen trennte daher ein Abstand von fünfzig Generationen von den Ereignissen, doch sie hatten zwei Vorteile. Der erste war ihre Kultur. Sie waren von Natur aus Nomaden und Aasesser und verspürten wenig Widerstand gegen den Ruf. Der zweite war die Nähe. Sie hausten bereits in den Katakomben unter den Zahnfelsen.

Das cymrische Erbe war das höchste und wunderbarste Geheimnis der Finder. Sie stammten von denjenigen ab, die in Gwylliams letzten Tagen von den Bolg gefangen genommen worden waren. Ihre Langlebigkeit, ihre blauen Augen zeugten von ihrer Herkunft. Sie waren die unglücklichen Opfer gewesen, die Canrif nicht mehr rechtzeitig hatten verlassen können, als die Bolg den Berg überrannt hatten.