Ihr Gesicht erhellte sich. »Welch ein Spaß! Welches sollte ich als Erstes tragen?«
»Also, wenn ich auch mal was sagen darf: Ich mag das Braune oder das Grüne, aber lass das mit dem Roten erst mal, bis mehr Leute da sind. Willst bestimmt nicht, dass ein paar von den Bolg aus der Ferne glauben, du bist verletzt. Macht dich zu ’nem guten Ziel.«
Rhapsody seufzte. Plötzlich vermisste sie Tyrian, wo man sie nie als mögliche Nahrung angesehen hatte, was immer man dort von ihr auch halten mochte.
Mit jedem Tag trafen neue Reisende ein. Einige ritten zu Pferd in die Senke oder fuhren in Wagen, doch die größte Gruppe bildeten die Wanderer. Wie die verwirrten Firbolg hatten sie keine Ahnung, wo sie sich befanden oder warum sie den Zwang empfunden hatten herzukommen. Sie waren Teil der cymrischen Diaspora, der großen Gruppe von Abkömmlingen aus den cymrischen Häusern ohne Wahlrecht, die durch Anwyns und Gwylliams Krieg auseinander gerissen worden waren. Ein weiterer unschätzbarer Verlust, dachte Rhapsody, als sie ihnen in die Augen blickte und ihre Angst und Verwirrung erkannte. Wie viele Generationen cymrischer Kinder waren durch den Konflikt von ihren Häusern getrennt worden und hatten eine Bevölkerung hervorgebracht, die nichts von ihrer eigenen Abstammung wusste? Sie grüßte sie freundlich, hieß sie willkommen und brachte sie in den Zelten und Hütten unter, die Achmed auf ihren Wunsch hatte errichten lassen, während sie in Tyrian gewesen war.
Beinahe sofort ergab sich eine Schwierigkeit. Aus Gründen, die Rhapsody nicht verstand, schienen sich die nervösen Cymrer genauso zwanghaft zu ihr hingezogen zu fühlen wie zu dem Gerichtshof. Sie standen mit offenem Mund und glasigen Augen vor ihr und konnten den Blick nicht von ihr wenden. Sie folgten Rhapsody unablässig und bildeten schließlich große menschliche Herden, die nur dann auseinander stoben, wenn Grunthor dazwischen trat. Achmed fand all das außerordentlich belustigend. Rhapsody hatte wie üblich eine Erklärung dafür gefunden, die nichts mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte: Sie war der Meinung, dass es sich dabei um eine Auswirkung des Hörnerschalls handelte.
Er hatte die Lage selbst zu verantworten. Auf seinen Vorschlag hin zeigte sich Rhapsody jeden Tag in einem verblüffenderen Kleid. Die Kleider waren aus schimmernder Seide, glänzendem Satin und wundervoll gewebtem Leinen aus Sorbold und Canderre gefertigt. Die Kleidung hob ihre Schönheit hervor und trug so dazu bei, dass die Neuankömmlinge von ihr bezaubert waren. Die Krone aus wirbelnden Sternen auf ihrem Kopf machte alles nur noch schlimmer. Für den Fir-Bolg-König war die Nutzbarmachung dieser Macht ein interessantes Experiment. Rhapsodys Ausstrahlung könnte ein nützliches Werkzeug werden, wenn das Konzil nicht den gewünschten Verlauf nähme. Und daran hegte er keinen Zweifel.
Außerdem hatte Achmed die Macht des ersten Eindrucks erkannt. Rhapsody war diejenige, die jeden Neuankömmling begrüßte, ihn willkommen hieß und den meisten erklärte, warum sie hier waren. Sie hinterließ bei den früheren Cymrern einen guten Eindruck und den Wunsch, zum selben Volk wie Rhapsody zu gehören. Auf diese Weise sicherte sie sich den Erfolg bei ihrer Mission, diese reizbare Bevölkerung zu vereinigen. Die Diaspora umfasste jedoch nur einen kleinen Teil aller Cymrer. Allmählich zeigte sich, dass nur etwa dreißigtausend der häuserlosen Abkömmlinge erschienen waren. Das bedeutete, dass der größte Teil der Gruppe noch fehlte.
Die Häuser der Ersten, Zweiten und Dritten Flotte trafen sich vor den Zahnfelsen und festigten ihre lockeren Bündnisse. Zweifellos warteten alle darauf, dass die Versprengten aus ihren eigenen Reihen noch eintrafen, damit sie die Senke in so großer und beeindruckender Zahl wie möglich betreten konnten. Von Anfang an lagerten sie auf dem orlandischen Plateau. Ihre Feuer erinnerten in der Nacht an ein Belagerungsheer. Dieser Vergleich gefiel Rhapsody nicht, doch weder Achmed noch Grunthor schienen sich Sorgen zu machen.
»Irgendwie ziemlich theatralisch«, meinte der riesige Firbolg-Kommandant. »Als ob sie irgendjemanden beeindrucken wollten. Ganz schön kindisch, wenn ihr mich fragt.«
»Bist du wirklich sicher, dass du diese Dummköpfe wiedervereinigen willst?«, fragte Achmed Rhapsody ungläubig.
»Warum?«
»Nun, bei denjenigen, die schon hier sind, ist der Grad der Dummheit bereits so hoch, dass ich es gefährlich finde, das Schicksal noch weiter herauszufordern, indem wir so viele Hohlköpfe gleichzeitig an diesem Ort versammeln. Ich befürchte, wir werden in einen hirnlosen Abgrund gesogen, aus dem wir nicht mehr entkommen können.«
Rhapsody lachte. »Die Cymrer sind nicht dumm, sondern ungebärdig«, sagte sie und versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Außerdem sind sie jetzt hier. Wir müssen das Beste daraus machen.«
»Ich wüsste schon, was wir mit ihnen machen können, aber wahrscheinlich findet ihr meinen Vorschlag nicht so toll«, meinte Grunthor düster.
»Ich will erst gar nicht nachfragen.«
»Sie als Übungsziele benutzen.«
72
Es war ein schöner Tag, an dem man das Leben genießen konnte, fand Tristan Steward, als sein Kriegspferd, dessen kastanienbraunes Fell und die Mähne unter der metallenen Rüstung verschwanden, den Gipfel eines Hügels in der orlandischen Steppe erreichte. Der Wind kündete vom nahenden Sommer und war warm und wohlriechend; die Erde duftete üppig. An der Spitze von hunderttausend starken Männern und zehntausend Berittenen zu stehen war das großartigste Gefühl, das er je verspürt hatte. Es war eine mächtige, beinahe geschlechtliche Erregung. Er hatte den Eindruck, die Erde selbst bewege sich im Einklang mit ihm. Heftige Schwingungen und der ohrenbetäubende Lärm seines vorrückenden Heeres begleiteten ihn, und die Landschaft hinter ihm war geschwärzt von seinen Mannen. Je näher das Kontingent den Manteiden, den Zahnfelsen, kam, desto größer wurde seine Erregung. Während etliche der Männer, die in seiner Nähe ritten, und sogar viele Fußsoldaten genau wie er auf den Ruf des cymrischen Hornes reagierten, glaubte die überwiegende Mehrheit, die nicht von serenischer Abstammung war, man wolle die Bolglande überrennen. Anfangs war es seltsam gewesen, die Verwirrung zu beobachten, welcher die wenigen cymrischen Soldaten offenbar ausgesetzt waren. Der Gerichtshof war den Legenden zufolge ein Ort großer Kraft, an dem das Land selbst die Gesetze des Konzils durchsetzte, die ein Minimum an Höflichkeit und gutem Benehmen vorschrieben und es den vielen Parteien des cymrischen Königreichs ermöglichten, Verhandlungen über Frieden und die Errichtung eines cymrischen Reiches zu führen. Daher war es für all jene Männer von cymrischem Geblüt quälend, in vermeintlich kriegerischer Absicht mit Tristan Steward zu reiten.
Erfreut hatte der Herrscher entlang der transorlandischen Verbindungsstraßen verlassene Wachtposten bemerkt, die sonst mit rohen Gestalten besetzt waren, welche die Grenze schützten. Seit er die Steppe betreten hatte, die zu den Bergen führte, hatte er keinen einzigen Firbolg mehr gesehen. Die Ebene wirkte noch öder, als er erwartet hatte.
Eine Seuche konnte eine wunderbare Waffe sein.
Er wandte sich an McVickers, seinen Marschall, der mit ernstem Gesicht neben ihm ritt.
»Wie weit noch, McVickers?«
»Morgen sollten wir in Sichtweite des Gerichtshofes kommen, Herr.«
»Ausgezeichnet«, sagte Tristan Steward und tätschelte sein Pferd. »Wir werden unser Lager außerhalb des Gerichtshofes aufschlagen. Diejenigen, die an dem Konzil teilnehmen, werden dann entlassen, damit sie sich dazugesellen können. Sorge dafür, dass alle Truppen wissen, wo sie sich nach dem Konzil versammeln sollen.«
»Ja, Herr.«
Tristan seufzte vergnügt. Er legte den Kopf zurück, damit die Sonne sein Gesicht bescheinen konnte.
Alles in allem war es ein schöner Tag.
Nach Monaten quälenden Wartens dämmerte endlich der Tag des Konzils herauf. Es war unmöglich, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. In der Nacht war es in der Senke plötzlich ganz still geworden; der Lärm zehntausender Stimmen war zu tiefem Schweigen verstummt. Der Sonnenuntergang war in dieser letzten Frühlingsnacht besonders prächtig gewesen. Die Feuerfarben der herannahenden Nacht hatten sich in einer letzten blutroten Wolke verdichtet, die zu sanftestem Rosa geworden war, bevor sie hinter dem Rand der Welt in der Finsternis verschwand. Der Himmel war zu Azurblau verblasst, dann zu Kobaltblau und schließlich zu tintigem Schwarz. Zaghaft hatten sich die Sterne gezeigt, als ob Rhapsodys Abendgebet sie allmählich hervorgelockt hätte. Wie jede Nacht hatte die Senke ihren Vespergesang aufgenommen; das war der einzige Zeitpunkt während der langen, lärmenden Tage, an dem die Cymrer jedes Mal zur Ruhe kamen und verzückt lauschten, wie die Sängerin die Sterne in der Abenddämmerung begrüßte.