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Die Woge an Menschen ergoss sich nun in den Gerichtshof wie ein See, der einen Damm durchbricht. Einige riefen freudig Leuten, die sie kannten, etwas zu, andere nickten alten Gegnern zu, wobei die Luft um sie herum vor Spannung knisterte. Sie schritten hinter gewaltigen Bannern her, die ihre Abstammung kundtaten, oder hatten sich zu uneinheitlichen Gruppen zusammengerottet. Sie waren die teils größeren, teils unwesentlicheren Häuser, die letzten Überbleibsel des cymrischen Zeitalters, die Abkömmlinge der Drei Flotten, die ihre gegenseitigen Bande bis nach dem Ende des Krieges aufrechterhalten hatten. Dies war die politische Struktur, welche das Konzil vor zwölfhundert Jahren gebildet hatte.

Einige der größeren, angeseheneren Häuser bestanden aus den Adligen von Roland, Sorbold und den umgebenden Ländern. Rhapsody verneigte sich tief vor Tristan Steward, dem Prinzen von Bethania, der hinter Herzog Cunliffe herritt, einem kleineren Adligen aus seinem Hofstaat, welcher das Oberhaupt seines Hauses Glyden war.

Rhapsody bemerkte eine unruhige Bewegung in dem Meer von Menschen unter sich. Lord Stephen Navarne und seine Kinder befanden sich am Ende des Hauses Glyden, und alle drei winkten nervös. Melisande hockte auf den Schultern ihres Vaters und winkte ihr wild zu. Rhapsody lächelte und winkte zurück.

Nach der anfänglichen Aufregung anlässlich des Eintritts der ersten Häuser wandelte sich die Atmosphäre. Die Gruppen teilten sich nicht nur nach Häusern, sondern auch nach den Flotten auf, auf denen sie oder ihre Vorfahren gesegelt waren, oder aber nach Rassen. Als die Lirin einschritten, begaben sie sich sogleich zum Fuß des Rufersimses und stellten sich unter Rhapsody auf. Sie kam herunter und begrüßte sie, umarmte Oelendra und Rial sowie einige ihrer engeren Freunde aus Tyrian. Dann kehrte Stille ein, und die Augen vieler anderer Cymrer ruhten auf ihr. Oelendra spürte es auch. »Komm«, sagte sie und nahm die Königin am Arm, »ich will dir bei dem Kleid helfen, das Miresylle dir für die Willkommensrede genäht hat.« Rhapsody stimmte zu und führte Oelendra zu ihrem Zelt. Von drinnen hörten sie, wie der Lärm wieder einsetzte und die gelegentlichen Streitereien heftiger wurden, als immer mehr Häuser in die Senke einschritten. Rhapsody seufzte.

»Der Morgen ist noch jung, und zehntausende sind noch gar nicht eingetreten, aber sie quäken schon wie die Kinder«, sagte sie und öffnete einen Kleidersack. »Ich hoffe, sie bringen sich nicht gegenseitig um, bevor alle hier sind.«

Oelendra ergriff den Saum des Rocks und verhinderte, dass er durch den Dreck geschleift wurde. »Sie werden nicht kämpfen, nicht beim Konzil. Das verbietet die Macht des Gerichtshofes. Als sich diese Leute das letzte Mal gesehen haben, standen sie sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sie müssen ihre Meinungsverschiedenheiten austragen; das ist schon lange überfällig. Es ist wichtiger, dass du als Ruferin neutral bleibst. Nur so kannst du die Befehlsgewalt über die Versammlung ausüben.«

Rhapsody nickte und schlüpfte aus ihrer Kleidung, um das neue Gewand anzuziehen. Miresylle, ihre Lieblingsnäherin, war eine mütterliche Frau, die Rhapsodys Körper kannte und ihr jegliche Kleidungsstücke nähte, ohne dass Rhapsody sie anprobieren musste. Dieses Kleid war aus alter cymrischer Seide geschneidert, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Sie war silbern und mit Goldfäden durchwirkt. Man sah entweder die eine oder andere Farbe, je nachdem von welchem Winkel aus man das Gewand betrachtete. Miresylle hatte Dutzende kleiner Knöpfe am Rücken und den Ärmeln eingenäht. Oelendra half Rhapsody dabei, das Kleid zu schließen und den gebauschten Rock zu glätten; dann drehte sie die Sängerin um die eigene Achse und betrachtete das Ergebnis. Die lirinsche Meistern keuchte unwillkürlich auf. Der Anblick war atemberaubend.

Der alte Stoff glimmerte im Licht des Diadems, das sich in dem Gesicht, den Augen und dem Haar der Königin widerspiegelte. Oelendras Augen füllten sich mit Tränen, doch sie trockneten rasch wieder, als sie den Ausdruck der Verärgerung in Rhapsodys Gesicht bemerkte.

»Was ist los?«

Rhapsody wandte sich von ihr ab und schlüpfte in ihre Schuhe. »Nichts.«

»Sag es mir.«

Die smaragdenen Augen, deren Blick dem der silbernen Augen Oelendras begegnete, kündeten von tiefer Besorgnis, die jedoch schnell wieder verschwand und von Ernsthaftigkeit ersetzt wurde. »Es ist nichts, Oelendra«, wiederholte sie. »Der Stoff ist über dem Bauch ein wenig eng, das ist alles. Miresylle muss vergessen haben, dass mir der Bauch anschwillt, wenn ich gegessen habe.«

Oelendras Miene bewölkte sich. »Wann hast du zum letzten Mal gegessen, Rhapsody?«

»Gestern Abend. Mach dir bitte keine Sorgen, Oelendra. Es kneift nur ein klein wenig. Miresylle hat mich längere Zeit nicht mehr gesehen. Vielleicht hat sie meine Maße vergessen.«

Oelendra nickte. »Zweifellos. Sollen wir zurück zum Konzil gehen?« Rhapsody gürtete die Tagessternfanfare um und ergriff die Hand der alten Frau. Zusammen verließen sie das Zelt und umarmten sich noch einmal, bevor Oelendra sich wieder in die Reihen der Lirin begab. Rhapsody nahm erneut ihren Platz auf dem Rufersims ein und blickte hinunter auf die anwachsende Menschenmenge.

Die meisten der Cymrer, die sich bisher versammelt hatten, waren Menschen oder Lirin oder eine Kombination von beiden, doch gelegentlich bemerkte sie auch Leute anderer Rassen, die sie seit ihrer Abreise aus Serendair nicht mehr gesehen hatte. Manche waren ihr sogar völlig unbekannt.

Die erste dieser Gestalten war klein und ging am Fuß des Rufersimses entlang. Sie sah sich um, als suchte sie einen Unterschlupf. Es war eine Gwaddi-Frau, kaum vier Fuß hoch, mit riesigen grüngrauen Augen, einem herzförmigen Gesicht mit hohen Wangenknochen und karamellfarbenem Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Wie die anderen Mitglieder ihrer Rasse war sie schlank, hatte übermäßig große Hände und lange, schmale Füße. Sie schien sich in der Gesellschaft von Menschen nicht wohl zu fühlen, doch bevor Rhapsody sie zu sich rufen konnte, war sie in der Menge untergetaucht. Rhapsody war höchst erstaunt; sie hatte befürchtet, dieses kleine, sanfte Volk sei während des schrecklichen cymrischen Krieges vernichtet worden. Nun war sie tief erleichtert, dass ihre Angst zumindest teilweise unbegründet war.

Nach und nach fielen ihr noch weitere unbekannte Rassen ins Auge Männer und Frauen mit einzigartigem Körperbau und Aussehen, dunkle lirinhafte Gestalten mit Augen, die schwärzer als die vergangene Nacht waren; geschmeidige Menschen mit Haaren und einer Haut, die so golden wie Weizen auf einem Sommerfeld waren, gedrungene, stämmige Männer mit breiten Schultern und langen, silbernen Barten, eine Gruppe umherrennender Kinder in Silber und Blau, die wie die Sonne auf dem Meer leuchteten, und dazwischen Menschen und Lirin in den Farben ihrer Nationen. Es war etwas Einzigartiges an ihnen allen, eine Schönheit, die tief in Rhapsodys Seele drang und in ihr den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen, als ob sie diese Leute ihr ganzes Leben lang gekannt hätte, auch wenn sie nicht zu ihnen gehörte. Sie dachte an das, was Elynsynos über die Cymrer zu ihr gesagt hatte, und lächelte über die Weisheit der Drachin.

Sie waren Magie. Sie hatten die Erde überquert und dabei die Zeit angehalten. In ihnen fanden alle Elemente ihren Ausdruck, auch wenn sie nicht wussten, wie sie diese anwenden sollten. Einige stammten von Rassen ab, die man in diesen Gegenden nie zuvor gesehen hatte; es waren Gwadd und Liringlas und Gwenen und Nain, Alt-Serener und Dhrakier und Mythlin ein menschlicher Garten voller verschiedener, wunderbarer Blumenarten. Sie waren etwas Besonderes, meine Schöne, ein einzigartiges Volk, das es verdient, geschätzt und beschützt zu werden.