Rhapsody fragte sich, wo sich diese fremden Völker aus einem Land, das vor mehr als tausend Jahren untergegangen war, nur versteckt gehalten hatten. Sie hatte keine Zeit, lange über diese Frage nachzudenken, denn von Osten ertönte ein neuerlicher Trompetenstoß, und Huftritte kündeten die Ankunft einer weiteren Cymrergruppe an.
73
Grunthor sah zu, wie das rolandische Heer eintraf. Er schirmte die Augen vor dem Sonnenglast mit der Klinge seiner gewaltigen Streitaxt ab, die er Sal nannte, was die Abkürzung von Salut war.
Falls ihn die scheinbar endlosen schwarzen Wellen orlandischer Soldaten in den Senken vor den Zahnfelsen nervös machten, so zeigte er es nicht. Er verharrte reglos; sein Gesicht zeigte stärkste Konzentration. Er zählte.
»Mindestens zehntausend Männer Kavallerie, zehnmal so viele zu Fuß«, berichtete er. Achmed nickte. Er stand mit einer kürzlich fertig gestellten Cwellan über dem Rücken da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete, wie sich die Streitkräfte Rolands über das Vorgebirge vor dem Gerichtshof ausbreiteten.
»Wir wussten, dass es früher oder später so weit kommen würde«, sagte er leidenschaftslos.
»Ich hätte es aber nie für möglich gehalten, dass Tristan so schnell ein so großes Heer zusammenstellen kann, und ich hätte nie geglaubt, dass er es wagt, den Zorn der Cymrer auf sich zu ziehen, indem er seine Truppen zum Konzil führt.« Er spuckte aus und schaute dann gedankenverloren nach Süden. »Hast du von unseren Spähern Meldungen über weitere Streitkräfte aus Sorbold gehört?«
»Nein.« Grunthor schaute in dieselbe Richtung wie Achmed. »Meinst du, dass wir noch mehr davon bekommen?«
Achmed nickte erneut. »Ein Heer von dieser Größe ist zwar gefährlich, aber es ist zu klein, um die Vision auszulösen, die Rhapsody vor unserem Aufbruch nach Yarim hatte. Sie hat gesehen, wie die Bergflüsse von Blut rot gefärbt waren und die Erde sich unter dem Himmel schwärzte. Ich glaube, zumindest das sorboldische Heer muss sich noch dazugesellen, bevor wir derart unterlegen sind, dass ein solches Szenario Wirklichkeit werden könnte.«
»Roland hat fünf Schießgruppen und fünfhundert Katapulte«, sagte Grunthor. »Könnte ’ne harte Sache werden, je nachdem, was sie vorhaben.«
Der Bolg-König spuckte wieder aus, um den bitteren Geschmack von Galle aus dem Mund zu bekommen.
»Wir sollten herausfinden, welche Pläne Tristan in Wirklichkeit hat.«
Der Prinz von Bethania hatte seinem Marschall vorläufige Befehle gegeben und unterrichtete soeben seine Generäle, als die Späher das Signal sandten, auf das er gewartet hatte. Der Fir-Bolg-König kam.
Er versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, doch seine Hände zitterten. Am Morgen, als er zur Eröffnung des Konzils mit seinem Haus in den Gerichtshof eingeritten war, hatte er das Ungeheuer auf dem hohen Aussichtspunkt stehen sehen. Als der Lärm innerhalb der Senke angeschwollen war und sich damit der baldige Beginn der Versammlung angekündigt hatte, war er fortgehuscht, um sich mit seinem Heer zu besprechen, bevor die Ruferin die Leute zur Ordnung mahnte.
Zum Glück blieb ihm nun noch genug Zeit, um dem Bolg-Kriegsherrn, der mit seinem gewaltigen Sergeanten herbeikam und sicherlich vom Anblick des rolandischen Besatzungsheeres eingeschüchtert war, den letzten Mut zu rauben.
Tristan Steward stand trotzig da und versuchte ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken, das sich über sein Gesicht legen wollte. Als der Bolg-König nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, blieb dieser stehen. Seine schwarze Robe flatterte im Wind. In seinen verschiedenfarbigen Augen lag keine Angst. Er grinste anmaßend und warf einen herablassenden Blick auf das Feld hinter Tristan.
»Ich hoffe, du hast deine eigenen Versorgungswagen mitgebracht, um deine kleinen Freunde ernähren zu können. Die Einladung erstreckte sich nur auf die Cymrer. Es ist schon schlimm genug, dass wir für diese Bande von Taugenichtsen sorgen müssen. Ich habe nicht vor, unsere Gastfreundschaft auf ungebetene Gäste zu erstrecken.«
Tristans Kinnlade klappte herunter. Seit langem hatte er sich auf den Augenblick gefreut, in dem er mit den hunderttausend Männern seines Heeres vor den Toren Ylorcs stehen und das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht dieses albtraumhaften Geschöpfs tilgen würde, das ihn seit so langer Zeit bedrohte. Doch dessen Lächeln wich nicht; es war wie in Stein gemeißelt. Rasch schloss er wieder den Mund und betrachtete das Antlitz des Bolg-Königs. Es war ein Gesicht, das kürzlich die Zerstörung seines Königreiches mit angesehen hatte. Sicherlich war es von Wut verzerrt gewesen, als sein Träger sich einen Überblick über die tausende von Toten verschafft hatte und Zeuge der Massenbegräbnisse geworden war. Er erinnerte sich an seinen Geschichtsunterricht über Seuchen in Roland und Sorbold. Einer seiner Vorfahren war angeblich aufgrund der Seuche, die sein Herzogtum heimgesucht hatte, verrückt geworden und hatte Selbstmord begangen.
Doch war zweifellos der Verlust eines Königreiches voller Ungeheuer nicht so schrecklich, wie es bei menschlichen Geschöpfen der Fall gewesen wäre. Vielleicht war der Bolg-König pragmatisch in Hinsicht auf seine Verluste, da er das Leben der Bolg genauso wenig schätzte wie die Menschen. Wie gewonnen, so zerronnen.
»Ich erlaube dir, die Reste deiner Bevölkerung friedlich zu evakuieren, bevor wir den Berg erobern. Wenn das Konzil vorbei ist, werde ich Canrif besetzen.«
Das böse Lächeln wurde breiter. »Du persönlich? Canrif ist groß, Tristan. Du bist zwar ein wenig fett um die Hüfte, aber ich bezweifle, dass du ein ganzes Königreich für deinen übergewichtigen Körper benötigst. Ich habe eine besonders große Hütte, die ich dir zur Verfügung stellen kann, falls dir die Unterbringung in deinem Feldlager zu unbequem ist. Aber ich befürchte, dass alle Gästehäuser besetzt sind. Rhapsody hat sich um diese Dinge gekümmert.«
Bei der Erwähnung ihres Namens wurde Tristan rot. Achmed bemühte sich, nicht laut aufzulachen. Er beugte sich verschwörerisch vor.
»Sie hat die Diplomatenquartiere denjenigen Gästen vorbehalten, die sie als besonders wichtig erachtet. Ich habe deinen Namen nicht auf der Liste gesehen. Du bist doch nicht einmal das Oberhaupt deines Hauses, oder? Selbst wenn du es wärest, hättest du wohl kaum ein Zimmer bekommen, wenn man bedenkt, was Rhapsody von dir hält. Aber wie ich schon sagte, habe ich eine große Hütte, in der du während des Konzils schlafen kannst.«
Eine Ader an der Schläfe des Herrn von Roland pulste so stark, dass Achmed schon befürchtete, sie könne platzen. Tristan blähte die Nüstern, machte einen Schritt auf den Bolg-König zu und senkte die Stimme zu einem mörderischen Flüstern.
»Du überheblicher Bastard! Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, dein Volk vor weiterem Blutvergießen zu bewahren, und was tust du? Du beleidigst mich! Ich werde es genießen, dich und deine monströsen Untertanen unter meinen Stiefeln zu zertreten. Ich werde Canrif von all deinen Überbleibseln reinigen, bis hin zur verpesteten Luft, die du in den Berg gesogen hast. Ich werde ihn wieder für menschliche Wesen bewohnbar machen, sobald alle Spuren der Verseuchung getilgt sind.« Als er geendet hatte, bemerkte er, dass ihn der Mann, den die Bolg das finstere Auge nannten, durch seine Schleier streng ansah.
»Und wie willst du diese Drohung in die Tat umsetzen?«
Tristan Steward starrte den Fir-Bolg-König einen Moment lang an, als wäre dieser verrückt. Das Meer aus Soldaten schwärzte die Hügelkämme. Vielleicht konnte das Ungeheuer im Gleißen der unzähligen Waffen und Rüstungen nicht mehr richtig sehen.
»Es tut mir Leid«, sagte er mit gespielter Höflichkeit. »Habe ich etwa vergessen, dir das vereinigte Heer von Roland vorzustellen?«
Die unterschiedlichen Augen des Bolg-Königs starrten ihn noch eine Weile an, dann richteten sie sich beiläufig auf die Krevensfelder. Die Ahnung eines Lächelns umspielte seine Lippen.