Die Stille in der Senke wurde schwer. Selbst aus der großen Entfernung bemerkte Ashe, wie Oelendra die Lippen zusammenpresste. Der Hass in ihrem Blick wuchs.
»Sag ihnen doch, Oelendra, warum sie alle hier sind. Sag ihnen, dass du schon vor Jahrzehnten den genauen Zeitpunkt und Ort kanntest. Manwyn hat dir in Gegenwart meines Sohnes gesagt, wann und wo du den Dämon vernichten würdest, als er noch so schwach war, dass du es ohne die Hilfe der Drei geschafft hättest. Leugnest du das etwa?« Ihre Augen blitzten, und ihre Stimme wurde rauer. »Leugnest du es?«
Hunderttausend Augenpaare starrten Oelendra an Sie hielt den Kopf hoch erhoben, den Rücken und die Schultern gerade, doch etwas war aus ihrem Blick gewichen. »Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme war kaum hörbar.
Ein widerliches Lächeln kroch über Anwyns Gesicht. »Ich glaube nicht, dass jemand dich gehört hat, Oelendra«, höhnte sie und richtete sich noch mehr auf. »Was hast du gesagt?«
Oelendra seufzte unhörbar. Rhapsody sah, wie das Licht aus ihrem Gesicht wich. »Nein«, wiederholte sie, und ihre Gegenwehr zerbrach.
Ungläubiges Murmeln huschte durch die Senke; überall wurde geflüstert. Anwyn lächelte strahlend, weil es ihr gelungen war, ihre alte Feindin zu erniedrigen.
»Du wusstest es und hast dich geweigert, zu gehen. Du hast dich vor deiner Verantwortung als Iliachenva’ar gedrückt, um deine Verpflichtungen als große und ruhmreiche lirinsche Meisterkriegerin erst gar nicht zu erwähnen. Gib es zu, Oelendra. Du hattest das, was du sonst niemandem zugestehst: Angst. Du hattest die Warnungen gehört, und das Risiko erschien dir zu groß, nicht wahr? Stattdessen hast du andere an deiner statt losgeschickt, die tausendmal mehr wert waren als du, damit sie für dich die Konsequenzen tragen. Mein Enkel, die Hoffnung der cymrischen Völker, ein Unschuldiger, hat unbeschreibliche Qualen erlitten und wegen deiner Feigheit seine Seele verloren. Deine Tatenlosigkeit hat ihn in die Fänge des F’dor getrieben. Gibst du das zu?«
»Hör auf damit!«, rief Ashe. »Wer bist du, dass du sie so beleidigen darfst? Du, die den Diamanten der Reinheit zerstört hat, unsere einzige Waffe gegen den Dämon? Ich bin allein gegen den Dämon ins Feld gezogen; es war meine Entscheidung. Wenn ich sie für mein Schicksal nicht verantwortlich mache, warum tust du es?«
»Warum?«, fragte Anwyn verächtlich. »Soll ich ihm den Grund dafür sagen, Oelendra? Vielleicht will er wissen, warum er nicht der Einzige ist, den du auf diese Weise ausgeliefert hast. Soll ich ihm und allen anderen von Pendaris berichten?« Oelendra zog ungläubig die Brauen zusammen. »Ja, Oelendra, vielleicht solltest du es ihnen selbst sagen. Sag ihnen, wie dein Gemahl gestorben ist. Sag ihnen, ob es auch geschehen wäre, wenn du deinen Verpflichtungen nachgekommen wärest.«
Oelendras Gesicht wurde weiß. Selbst von seiner Position am Kopf der Zweiten Flotte aus spürte Ashe, wie ihr die Luft ausging. Diese Anklage war neu und riss eine frische Wunde in ihr. Anwyn stieß ein freudiges Krähen aus und deutete wieder auf die Kriegerin. »Aus diesem Grund sollte ich den Titel einer Herrscherin behalten. Ich allein kenne die Vergangenheit und die Geschichte der Cymrer. Ich kenne deine Geheimnisse. Nun, Oelendra? Sag es ihnen! Sag ihnen, wen du damals an den F’dor ausgeliefert hast. Wirst du uns allen in der Zukunft ein ähnliches Schicksal bereiten?«
Nun brach die Versammlung in lautes Geschrei und Gerede aus, das noch verbitterter und heftiger war als zuvor. Ashe schaute hinüber zu Achmed; ihre Blicke trafen sich. Beide hatten denselben Gedanken: es bahnte sich ein Aufruhr an. Sie schauten hoch zum Rufersims und zu Rhapsody, doch sie hatte sich vorgebeugt und war ihren Blicken entzogen. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkten die Männer, dass sie ihr Gepäck durchsuchte. Ihr Gesicht war ruhig, und als sich ihre Blicke mit denen Achmeds trafen, lächelte sie.
Rhapsody nahm ihre Harfe und spielte darauf. Sofort er kannte Ashe die Melodie. Es war das Lied, das sie während seiner Benennungszeremonie gespielt hatte. Es hallte von den Wänden des Gerichtshofes wider; die Vibrationen verstärkten sich mit jedem Ton. Die Erde leuchtete überall dort auf, wo die Musik auf sie traf.
»Anwyn«, sagte sie. Ihr sanftes Wort erstickte alle anderen Geräusche im Gerichtshof. Zornig über die Unterbrechung, wandte sich die Seherin zu ihr um. »Anwyn«, wiederholte Rhapsody.
»Sei still.«
Anwyn riss schockiert die Augen auf. Sekunden später hatte sie sich bereits wieder erholt, und ihr Gesicht brannte vor Zorn. Ihr Körper wand sich wie der einer Schlange, die gleich zustoßen würde. Während sie sich darauf vorbereitete, eine Antwort zu geben, versteiften sich ihre Halsmuskeln. In ihrem Blick lag ein Hass, den die Sängerin noch nie gesehen hatte. Rhapsody erwiderte den Blick. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gelassen, sogar freudig schimmernd. Nur die Farbe ihrer Augen zeigte an, dass sie angespannt war. Sie hatten nun die Färbung von Frühlingsgras und blitzten in einem Licht, unter dem sogar die Seherin einen Moment lang zögerte. Dann sprach Anwyn, oder sie versuchte es wenigstens. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Wort, kein Ton kam heraus.
Mitleid stahl sich in Rhapsodys Blick, als Anwyn sich an den Hals griff, doch ansonsten blieb die Miene der Sängerin gelassen. Die Seherin zuckte vor Wut und wand sich in einem stummen Schrei. Als sie Rhapsody wieder ansah, war ihr Zorn der Angst gewichen.
»Du hast wiederholt verlangt, dass andere deine Fragen beantworten sollen. Du hast dein Amt als Seherin der Vergangenheit verletzt, indem du eine Antwort für die Zukunft haben wolltest. Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit.
Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.«
Sie sang, und die Masse der Cymrer wurde still vor Erstaunen. Rhapsodys Stimme war süß, aber rauchig, erfüllt von Sorge, und ihr Lied erzählte von der Geschichte des Volkes, von seinem Grauen und Schmerz. Der Text war auf Alt-Lirin verfasst, sodass nicht jedermann ihn verstand, doch jene, die es taten, fingen an zu weinen. Ihre Tränen waren nicht die einzigen, denn um die Botschaft zu begreifen, war es nicht nötig, die Worte zu verstehen. Das Lied berichtete vom Krieg, dem Krieg in ihrer Heimat, und von der verzweifelten Flucht und dem Versuch, der Vernichtung zu entkommen. Es schwang sich zu einem schrecklichen Crescendo auf und mündete in eine Meeresarie, eine Geschichte ihrer Reise durch den Großen Sturm in die neue Welt, und erzählte schließlich von dem Wunder der Entdeckung des Landes.
Auch Ashe weinte ergriffen, doch er spürte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht legte, als das Lied sich abermals wandelte. Er erkannte, dass es sich bei dem Lied um eine Rhapsodie handelte, deren einzelne Sätze sich bei jeder Legende änderten. Diese Vorstellung erfreute ihn irgendwie. Er lauschte verzückt, als sie das Wunder besang, durch das sie den Weißen Baum gefunden hatten. Es folgte das Treffen mit den Ureinwohnern, die Vereinigung der Drei Flotten und all die ruhmreichen Tage des cymrischen Zeitalters, in dem die großen Städte erbaut wurden, tiefes Wissen erworben und ein besseres Leben für das Volk erzielt wurde. Als die Herzen der Masse in der bewegenden Erinnerung schwangen und Stolz auf allen Antlitzen lag, wechselte die Melodie erneut.
Nun wurde sie heimtückisch, heimlichtuerisch und gefährlich. Dissonanzen deuteten den Zusammenbruch der vorangegangenen traumgleichen Melodie an. Das Licht in den Gesichtern der Cymrer schwand, und ihre Augen verdunkelten sich, als das Lied vom großen Krieg berichtete, von der Zerstörung Tomingorllos und der lirinschen Festung Haner Til, der Niederlage der Dritten Flotte und den Schlachten in Canrif und Bethe Corbair sowie von Verwüstung und Völkermord sprach, welche die schwärzesten Stunden der siebenhundertjährigen Geschichte des sinnlosen Blutvergießens markierten. Die Schmerzen, die das Lied zum Ausdruck brachte, spiegelten sich in den Mienen der Anwesenden wider, und sie schluchzten haltlos. Die Melodie wurde noch zermürbender, unbarmherziger, war wie der Krieg selbst. Kurz bevor sie den Mut der versammelten Cymrer vollends brach, sank sie zu Stille herab und wurde nur noch durch einen einzigen, langen und schwingenden Ton aufrechterhalten.