Aus diesem einen Ton erblühten sanfte Harmonien, dann einfache Weisen, die sich zu einem Konzert steigerten, das von tiefen Tönen akzentuiert wurde. Das dunkle, einfache Mantra der Harfe verlieh dem frischen, frühlingshaften Lied große Tiefe. Es war eine Sinfonie des Wiederaufbaus, des Wechsels, der Wachsamkeit, der Angleichung und standhaften Aufrechterhaltung von Traditionen. Es war das vollkommene Zeugnis der Cymrer, wie sie jetzt waren. Nun lächelte Rhonwyn, die zarte Schwester, und sagte: »Wir sind hier. Das ist das Jetzt.«
Rhapsodys Musik brach abrupt ab. »Du hast Recht«, sagte sie zu Rhonwyn mit einem Lächeln unübertrefflicher Sanftheit. »Und daher müssen wir aufhören, denn das ist nicht mehr deine Zeit, Anwyn.«
»Was ist mit der Zukunft?«, rief eine Stimme mitten aus der Versammlung. »Sag es uns! Gib uns Hoffnung!« Der Ruf wurde von der Menge aufgenommen. Zehntausende Stimmen forderten das Ende des Liedes zu hören. Die Stimmen waren wie ein Erdbeben, das durch den Gerichtshof zitterte.
»Habt einen Augenblick Geduld«, antwortete Rhapsody ihnen. »Das ist nicht ihre Sache, sondern unsere. Ehrt Anwyn. Sie verlässt uns jetzt.«
Der Hass in Anwyns Augen war verschwunden und von Tränen der Trauer und Verwunderung ersetzt worden. Sie versuchte noch einmal zu sprechen, konnte es aber nicht. Sie sah Rhapsody an und fand in ihrer Miene keine Schadenfreude, keinen Sieg, sondern nur Frieden. Das Entsetzen über die Erkenntnis, dass sie nicht mehr die einzige cymrische Herrin war, welche die Vergangenheit des Volkes verstand, war für alle Zuschauer deutlich zu sehen. Zum ersten Mal in der Erinnerung des cymrischen Volkes neigte sie den Kopf.
»Meine Huldigung an dich ist zu Ende. Geh jetzt, Herrin der Vergangenheit«, sagte Rhapsody freundlich. »Geh und bringe deine Erinnerungen in Ordnung. Wir werden großartige neue erschaffen, die du schon bald berücksichtigen kannst.«
Anwyn sah Rhapsody noch einmal böse an, verließ dann den Gerichtshof und verschwand. Rhapsodys Blick suchte Oelendra und lächelte, als sie die alte Kämpferin entdeckt hatte. Sie hielt die Harfe hoch wie eine Waffe, und die beiden Frauen tauschten einen Blick tiefen Verstehens aus. Das war es, was ich gemeint hatte, sagte sie damit. Es gibt viele Arten von Waffen, und alle sind zur gegebenen Zeit mächtig. Oelendra erwiderte ihr Lächeln nicht. Sie nickte, drehte sich um und verschwand in der Menge.
Das Brüllen der Masse überschwemmte Rhapsody wie eine Meereswoge. Es fuhr durch ihren Körper und ihre Seele, und mit einem Mal fühlte sie sich im Einklang mit ihnen. Sie suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Ihr Blick fiel auf Ashe. Das Sonnenlicht war durch den wolkenverhangenen Himmel gebrochen und erleuchtete das rotgoldene Haar, dass es wie Feuer loderte. Die stechenden blauen Augen waren selbst aus der großen Entfernung deutlich zu erkennen. Sie waren auf Rhapsody gerichtet und brannten mit einer Eindringlichkeit, unter der sie errötete.
Plötzlich fühlte sie sich schlecht, allzu deutlich den Blicken ausgesetzt, und sah sich nach einem Zufluchtsort um. Doch Ashes Starren war dasselbe wie bei all den anderen in der Menge. Wohin sie auch schaute, waren die gleichen bohrenden Blicke auf sie gerichtet. Am liebsten wäre sie von dem Sims verschwunden.
Mit jedem Schlag ihres Herzens wurde der Lärm lauter. Man rief nach der Fortführung ihres Liedes, man bat darum, den Rest zu hören, man bedrängte sie, die Zukunft zu enthüllen. Rhapsody räusperte sich und wischte sich heimlich den Schweiß von den Handflächen.
»Geht nicht so rasch über die Vergangenheit hinweg«, sagte sie zu der lärmenden Menge.
»Bevor ihr entscheiden könnt, was geschehen wird, ist es notwendig zu entscheiden, was in diesem Augenblick geschehen soll. Ich wollte gerade Eure Frage beantworten, warum sich alle hier versammelt haben, Euer Majestät, als es zu dieser kleinen Unterbrechung kam.«
Gekicher wurde laut, während Rhapsody sich vor Faedryth verneigte, dem König der Nain, der sie anlächelte und die Verbeugung erwiderte. »Wenn ihr der Prophezeiung Glauben schenkt, wisst ihr, dass der Tod des Dämons das Zeichen ist, diesem Land und dem cymrischen Volk Einheit und Frieden wiederzugeben. Der Dämon ist tot. Es ist Zeit, die Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben und wieder ein Volk zu werden.«
Eine mit Trauer erfüllte Stimme erhob sich aus der Versammlung der Meeresmagier. »Wie kannst du nach dem, was wir gerade mit angesehen haben, nur darauf hoffen? Auch bevor diese Teufelin in unsere Mitte trat, gab es in dieser Versammlung Feindseligkeit und Hohn. Ist es nicht besser, wenn wir wie zuvor mit den Ureinwohnern zusammenleben, ein Teil von ihnen werden und vergessen, was wir einst gewesen sind?« Zustimmendes Gemurmel und Widerspruch regten sich überall.
»Aber das tut ihr doch«, meinte Rhapsody. »Die Cymrer leben mit den Völkern der verschiedenen Länder zusammen. Als ihr in dieser Welt angekommen seid, wart ihr ein abgesondertes Volk. Ihr wart Flüchtlinge und habt ein einiges Königreich gebildet. Das ist nicht mehr der Fall. Jahrhunderte des Krieges und der Anpassung haben das geändert. Seht euch doch um. Beinahe die Hälfte von euch sind heute einem Ruf gefolgt, den ihr nicht verstanden habt. Ihr wusstet nicht einmal, wer ihr seid, aber dennoch waren die Macht, die euch als Cymrer gerufen hat, und das Verlangen, diesem Ruf zu folgen, stark genug. Ihr seid ... wir sind Teil des Landes, in dem wir leben. Wir sind Leute verschiedener Nationen, verschiedener Rassen, haben verschiedene Könige und Königinnen, Prinzen und Herzöge, doch wir stehen hier als Gleiche, als Cymrer. Wenn etwas Gutes aus dem Grauen von Anwyns und Gwylliams Krieg erwachsen ist, dann ist es der Umstand, dass wir keine Flüchtlinge mehr sind, sondern Teil dieses Landes.«
»Und warum sollte es nicht so bleiben?«, fragte ein kleiner Mann aus der Gruppe der Gwadd, die vorn in der Zweiten Flotte standen. »Wir haben schon so viel Krieg und Blutvergießen ertragen.«
»Genau das ist der Grund«, antwortete Rhapsody. »Der große Krieg war schrecklich, aber er ist noch nicht wirklich vorbei. Überall um uns herum gibt es Raubzüge und mörderische Überfälle, die dieses Land erneut an den Rand eines Krieges geführt haben, und diesmal wird alles noch viel schrecklicher sein. Anstatt um die Ehre unehrenhafter Anführer zu kämpfen, werdet ihr aus Hass und Vorurteilen ins Feld ziehen. Die Saat dazu wird schon seit mehr als vierhundert Jahren gesät. Nun habt ihr die Gelegenheit, zu einem Konzil zusammenzukommen, das die Herrschaft der verschiedenen Königreiche anerkennt, aber für friedliche Beziehungen über den ganzen Kontinent hinweg sorgen kann. Schuldet ihr diesem Land, das euch aufgenommen hat, als ihr vom Sturm hin und her geworfene Flüchtlinge wart, nicht wenigstens dies? Nach allem, was dieser Ort euch gewährt hat? Nach all dem Schrecken, den ihr über ihn gebracht habt?
Wenn ich eine Botschaft für euch habe, dann diese: Die Vergangenheit ist vorbei. Lernt aus ihr und lasst sie los.« Rhapsody schluckte heftig, um den Knoten aufzulösen, der sich in ihrem Hals bildete. Tränen füllten ihre Augen. Sie lernte diese Lektion selbst, während sie zu dem Volk unter ihr sprach.
Sie sah auf Anborn, der im Mittelpunkt der Senke stand und sie breit anlächelte. Ein Ausdruck der Ermunterung erschien auf seinem Wettergegerbten Gesicht. »Wir müssen einander vergeben. Wir müssen uns selbst vergeben. Nur dann werden wir wahren Frieden finden.« Sie sah sich nach Oelendra um, konnte sie in der Menge aber nicht entdecken. Stattdessen ruhte ihr Blick nun auf Ashe, der sie mit einer Eindringlichkeit anstarrte, die ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ich weiß, ich bin keine von euch. Ich bin mit keiner der Flotten gesegelt. Ich habe Serendair vor dem Krieg verlassen und bin erst nach ihm hier eingetroffen. Ich habe nicht so gelitten wie ihr, aber selbst ich habe so viel ertragen, dass ich am Ende bin. Die Lirin haben mich aufgenommen, mir eine Heimat geboten und mir die Ehre verschafft, sie zu repräsentieren.