Bestürzung war mit seinen Worten in Rhapsodys Blick getreten, doch sie hatte ihn nicht unterbrechen können, denn sie hatte ihm das Wort erteilt. Als die Menge bei seinen letzten Worten auflachte und seinen Vorschlag bejubelte, sprang sie auf die Beine. Entsetzen bleichte ihr Gesicht.
»Seid ihr von...«
»Ich unterstützte deine Nominierung«, rief Anborn, und der Beifall wurde noch heftiger.
»Wartet«, sagte Rhapsody. Sie verspürte aufsteigende Panik. »Ich lege Widerspruch ein.«
»Rhapsody, du bist es, die von Sinnen ist«, meinte Ashe. In seinen Augen lag ein spitzbübischer Ausdruck. »Es wurde ein Antrag gestellt und unterstützt. Als Ruferin ist es deine Aufgabe, dass dieser Antrag dem gesamten Konzil vorgelegt wird, damit man über ihn abstimmen kann. Sei bitte so freundlich und tu es.«
Rhapsody schaute ihn wütend an. Dann wandte sie sich an das Konzil und versuchte, die Verzweiflung aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Gibt es weitere Nominierungen?« Das Konzil verfiel in Schweigen. »Überhaupt keine?« Die Stille wurde nur durch leises Gemurmel und geflüsterte Bemerkungen unterbrochen. »Was ist mit Einwänden? Hat niemand Einwände?«
»Anscheinend nicht, Herrin«, ertönte wieder Ashes Stimme. »Das Konzil scheint geschlossen einer Meinung zu sein. Es ist sich so einig, wie es in der Prophezeiung vorhergesagt worden ist. Habe ich Recht?«
Donnernde Zustimmung brüllte durch das Tal. Rhapsody spürte, wie der Felssims, auf dem sie stand, machtvoll vibrierte, als der Jubel durch die Senke bis zu ihren Füßen hinaufgrollte. Sie fühlte eine Welle der Stärke durch Körper und Seele fließen, wie sie es nicht mehr wahrgenommen hatte, seit sie durch die Feuer der Erde geschritten war. Es schien so, als verliehe der Gerichtshof, der auf die einmütige Stimme des cymrischen Konzils antwortete, ihr die Weisheit und Stärke, die sie als Anführerin benötigte. Es war ein neues Band, das sie an Volk und Land kettete. Schließlich begriff sie, was verliehene Macht war. Nun war sie zur Herrin der Cymrer geworden. Sie hatte sich nicht darum bemüht oder es erwartet. Allein die Weisheit, die sie durch die Freude der Versammelten verliehen bekommen hatte, hielt sie davon ab, in bittere Tränen auszubrechen.
»Meine Freunde«, brüllte Edwyn Griffyth, »das sollten wir feiern!«
Ashe sah Rhapsodys Blick, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er wandte sich noch einmal an die Menge:
»Ich sehe, dass Seine Majestät, der Firbolg-König, unser Gastgeber, auf dem Feld ein Bankett errichtet hat.« Er deutete über die Senke hinaus auf die Zelte, die Achmeds Truppen errichtet hatten. »Wir sollten das Brot brechen und erst wieder zur letzten Sitzung der Nacht zurückkehren, wenn der Mond über den Zahnfelsen steht.« Freudige Zustimmung schlug ihm entgegen. Die Menge teilte sich in Gruppen auf, die sich untereinander vermischten. Alte Freunde trafen sich und weinten, alte Feinde reichten sich die Hand. Alle feierten fröhlich die Möglichkeiten, welche das neue cymrische Zeitalter, das neue Konzil und die neue Herrin mit sich brachten. Ashe drehte sich wieder um und wollte sehen, wie Rhapsody die Lage einschätzte, doch sie war fort.
Helle Fackeln und sanfte Laternen spendeten dem weiten Feld am Fuß der Zahnfelsen ein freundliches Licht. Mit Essen beladene Tische standen bereit, Wein wurde großzügig herumgereicht, und fröhliches Lachen hallte durch das Gebirge und über die Heide. Seit der Hochzeit von Anwyn und Gwylliam waren die Cymrer nicht mehr zu einer Feier zusammengekommen. Ihre blendende Laune war ansteckend, und ihr guter Wille fuhr wie ein starker Wind durch die Menge.
Beim Abendessen sah sich Ashe nach Rhapsody um. Er spürte ihre Gegenwart und fühlte ihr Missfallen über die Ereignisse. Als er sich entschieden hatte, sie zur Herrin zu machen seine Entscheidung war durch den Ring des Patriarchen in der Mittsommernacht des vergangenen Jahres bestätigt worden, doch er selbst war schon viel früher auf diesen Gedanken gekommen , war ihm bewusst gewesen, dass ihr fest verwurzelter Glaube an das veraltete System des Adels es für sie schwierig machen würde, sich als Herrscherin anzusehen. Er hoffte inständig, dass sie sich in diese Rolle fügen würde, so wie es ihr als Königin der Lirin gelungen war, doch als er nun die Abneigung empfand, die sie in sich trug, machte er sich große Sorgen. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt.
Es gelang ihm nicht, während des Mahls mit ihr zu sprechen. Seine manossischen Gefährten und viele Mitglieder der anderen Flotten und der Adelshöfe von Roland hielten ihn an jeder Ecke auf. Sie drückten ihre Freude darüber aus, dass er noch lebte, und hießen ihn in ihren Reihen willkommen. Waffengefährten aus den Schlachten, die er geschlagen hatte, und Freunde aus lange vergangenen Tagen, besonders Herzog Stephen, erwarteten von ihm, dass er sie mit seinen Abenteuern unterhielt und so die zwanzigjährige Lücke seiner Abwesenheit füllte. Auch Rhapsody wurde von Bewunderern umschwärmt. Führer aus allen Fürstentümern, aus der sorboldischen Nation und der Neutralen Zone bemühten sich darum, mit ihr zu sprechen und neue Bande zu knüpfen, noch bevor sie gekrönt war. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Ashe einen Blick auf sie erhaschte, wirkte sie heiter und gelassen, doch er wusste, dass ihr ruhiges Äußeres die wachsende Aufregung verbarg, die sie in Wirklichkeit empfand. Ihre Augen trugen den Ausdruck eines gefangenen Rehs oder eines in die Ecke getriebenen Kaninchens.
Schließlich stieg der Mond über den höchsten Gipfel der Zahnfelsen. Das Hörn ertönte und rief die Cymrer wieder in den Gerichtshof. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Konzil erneut vollständig zusammengetreten war, so unwiderstehlich waren die Feierlichkeiten. Rhapsody blickte über die cymrische Bevölkerung, das Meer verschiedenster Gesichter, die zu ihr hinaufschauten und im Licht des über ihnen hängenden Vollmonds leuchteten. Als an diesem Tag die Sonne aufgegangen war, hatte Rhapsody gehofft, eine von ihnen zu werden, zu dieser Flüchtlingsbevölkerung gehören zu dürfen, die aus ihrer eigenen Heimat stammte, doch nun war sie ihre Herrscherin. Es war unwirklich bis an die Grenze des Absurden. Sie holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und zwang sich zur Ruhe. Jetzt sprach sie nicht mehr als Ruferin, sondern als Herrin.
»Was sollen wir als Erstes in Angriff nehmen?«, fragte sie die Menge. Die Frage erhob sich in vielen verschiedenen Formulierungen, doch der Inhalt war immer derselbe: »Wer soll unser Herr sein?«
Ihre Wahl und Bestätigung als Herrin der Cymrer hatte ihr zu einem neuen Verständnis des cymrischen Volkes verholfen. Daher war es ihr nun möglich, die Bemerkungen der Leute deutlicher zu verstehen. Zuvor waren die Rufe für sie nichts anderes als Lärm gewesen; jetzt waren es die ausgesprochenen Gedanken einzelner Wesen, die ihr Hirn umbrandeten wie Wellen den Strand. Etwa so muss es sein, Drachensinne zu haben, dachte sie. Ashe hatte es als jederzeitiges Bewusstsein aller Dinge um ihn herum beschrieben. Etwas Ähnliches fühlte sie jetzt.
»Die eigentliche Frage lautet: Wer hat das Recht dazu?«, meinte ein Nain-Krieger namens Gar.
»Das Recht hat jeder von uns. Jeder kann Herr sein«, antwortete jemand aus der Ersten Flotte.
»Aber der Herr der Cymrer war Gwylliam, ein Abkömmling der alten Seren-Könige. Sollten wir nicht wieder jemanden aus diesem Haus wählen? Es war schließlich das Haus, das uns sicher von der Insel geführt hat«, sagte Calthrop, ein weiterer Mann aus der Abordnung der Nain.