»Es war auch diese Linie, die uns in den Krieg geführt hat«, erwiderte Harklerode, einer der Soldaten aus dem Heer von Canderre.
»Die Fehler eines Mannes sollte man nicht dessen Nachkommen anlasten.«
»Der Ruhm eines Vorfahren sollte nicht über den eigenen Wert entscheiden.«
»Die Herrin stammt aus der Ersten Generation. Sollte der Herr nicht in diesem Land geboren sein? Sollte er nicht das Blut dieser Leute in den Adern haben? Ist das nicht der Grund, warum wir früher dem Herrn und der Herrin gefolgt sind? Weil er aus der alten Linie kam und sie aus der neuen?«
»Aber sie waren verheiratet. Sollten der Herr und die Herrin nicht ebenfalls heiraten?«
»Herr und Herrin waren verheiratet, um eine Wiedervereinigung und ein festes Bündnis zu garantieren.«
»Es war die Ehe, die den Krieg verursacht hat, falls ihr euch erinnert.«
»Wir müssen einen Herrn und eine Herrin haben, die miteinander verheiratet sind. Niemand mit der nötigen Weisheit, die er für die Wahl durch dieses Konzil braucht, wird dumm genug sein, unsere erwählte Herrin zu schlagen, wie Gwylliam es getan hat. Die gesamte Bevölkerung würde sein Blut fordern.«
»Außerdem ist sie die Iliachenva’ar. Wenn sie einen Dämon besiegen kann, wird sie wohl auch in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen.«
»Gut gesprochen. Es ist sinnvoll, dass sie verheiratet sind, besonders weil es die Frage der Nachfolge löst.«
»Halt.«
Die Stimme der frisch ernannten Herrin hallte über den Gerichtshof. Im Tumult war ihr entgangen, dass sie in eine Lage gedrängt wurde, die ihr unerträglich schien. Nun überfiel sie dieses Bewusstsein mit großer Macht.
»Ihr alle seid vermessen. Wie könnt ihr es wagen, über mich zu reden, als wäre ich eine Zuchtstute? Glaubt ihr, dass ich jetzt euer Eigentum bin und ihr plötzlich das Recht habt, alle Aspekte meiner Zukunft zu entscheiden? Ich empfinde es als höchst beleidigend, dass ihr annehmt, ich würde mich für eine arrangierte Heirat zur Verfügung stellen. Woher wollt ihr wissen, dass ich nicht bereits verheiratet bin? Niemand hat mich nach meinem Familienstand gefragt. Und falls ich noch nicht verheiratet sein sollte, wäre es doch möglich, dass ich bereits verlobt bin. Ihr seid ein Volk mit guten Anlagen, aber ihr verärgert mich. Wenn ihr die Notwendigkeit verspürt, diese Wahl für eure Herrin zu treffen, dann bin ich sie nicht länger. Ich gebe meinen Titel gern zurück, falls die Unterredung über dieses Thema weitergeht.«
Rhapsody schritt zum Rand des Rufersimses und versuchte hinunterzusteigen. Doch wie zuvor, als Anwyn Oelendra angegriffen hatte, war es ihr nicht möglich, den Felsen zu verlassen, denn überall unter ihr erhob sich Widerspruch.
»Nein!«, ertönte es aus dem gesamten Gerichtshof. Die Rufe schwangen durch den Wind und erinnerten an die Buhrufe in der sorboldischen Arena. Das Geschrei erstarb, als Anborn auf die Spitze der Sprecherkanzel eilte.
»Vergebt uns, Herrin«, sagte er lächelnd. Seine Stimme klang befehlend und hatte den Unterton eines Mannes, der es seit langem gewohnt war, ein Heer zu führen. »In der Aufregung, wieder ein einiges Volk zu sein, sind wir in unsere alte Anmaßung und Überheblichkeit verfallen. Die Dritte Flotte und unsere cymrischen Genossen erkennen Euch demütig das Recht zu, selbst die Wahl zu treffen.« Er wandte sich an die Menge. »Habe ich Recht?«
Das zustimmende Geschrei hätte Rhapsody beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht und sie von dem Sims gestoßen, wenn es ihr möglich gewesen wäre, ihn zu verlassen. Sie richtete sich mühsam auf und sah Anborn an. Er grinste ihr noch zu, und sie erwiderte sein Lächeln unsicher. In seiner Miene lag etwas, das sie beunruhigte. Sie verspürte ein seltsames Zerren in sich und sah sich im Fackelschein in der Menge um. Ashe starrte sie wild an. Sein Gesicht war zu einer Regung erstarrt, die wie Panik wirkte. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Rasch schaute sie fort.
»Was für’n Mädchen, diese Herrin«, hörte sie Grunthor in der Menge flüstern. Sie wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln.
»Also gut«, sagte sie und räusperte sich. »Machen wir noch einen Versuch.«
77
Die ermüdenden Streitereien gingen beinahe bis Mitternacht weiter. Rhapsodys Kopf pochte unter der Eintönigkeit der Redner, die sich andauernd wiederholten und einander widersprachen.
»Warum sollte es nicht zwei Herrinnen und keinen Herrn geben?«
»Ich glaube, auf dem Sitz der Macht müssen die Geschlechter in gleicher Stärke repräsentiert sein.«
»Ich habe keine Lust, von einem Nain-Herrn regiert zu werden!«, rief einer der Lirin, als Faedryth für die Position des Herrschers ins Spiel gebracht wurde.
»Und ich habe keine Lust, im Blumengarten eines Lirin-Hofes zu sitzen«, beschwerte sich ein verärgerter Nain.
«Dann müssen wir jemanden finden, der alle Rassen vereinen kann«, sagte Oelendra.
»Und jemanden, der nicht auf der anderen, sondern auf dieser Seite der Welt geboren wurde«, erklärte jemand aus dem großen, goldenen Volk um Edwyn Griffyth. »Ansonsten wird die Einheit des Volkes mit dem neuen Land nicht deutlich genug.«
»Wenn ich könnte, würde ich von diesem Sims in den Tod springen«, seufzte Rhapsody. »Ich will, dass der Herr der Cymrer jemand ist, der Ordnung in diesen Sauhaufen bringt, damit ich gehen kann, wann ich will.«
Die Cymrer sahen ihre neue Herrin entsetzt an, kamen dann aber zu dem Schluss, dass sie einen Scherz gemacht hatte, um die Stimmung aufzuhellen. Sie lachten schallend, bevor sie weiterdebattierten. Sie kennen mich nicht sehr gut, dachte Rhapsody. Sie blickte geistesabwesend in der Senke umher und fing Ashes Blick auf, der sie mitfühlend anlächelte. Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Konzil.
»Es gibt nur eine Linie, welche die alte Welt mit der neuen verbindet, und das ist Anwyns Linie«, sagte Oelendra gerade. Ihre Bemerkung hatte entsetztes Schweigen zur Folge. Ihre Feindschaft zu Anwyn war wohlbekannt und erst kürzlich bestätigt worden. »Welches andere Blut verbindet die alten Völker von Serendair, die ältesten der alten Welt, mit dem Blut des Drachen, dessen Innerstes in diesem Land steckt? Der Erstgeborene verbindet sich mit der Erstgeborenen. Noch wichtiger ist der Umstand, dass in dieser Linie durch Gwylliams Blut das Recht der Königswürde liegt. Er war ein Abkömmling des Hochkönigs von Seren, des Herrn aller Rassen.«
»Willst du damit sagen, dass wir noch einmal der Linie vertrauen sollen, die uns in den Untergang geführt hat?«, fragte Nielsen, ein sorboldischer Herzog.
»Ich sage, dass sie das einzige Haus sind, das Verbindungen zu uns allen hat, und dass sie vielleicht mehr als alle anderen aus den Fehlern ihrer Ahnen gelernt haben«, antwortete Oelendra.
»Aber wer soll es sein?«
»Das Recht der Königs würde ging jeweils auf den ältesten Sohn über«, sagte jemand aus der Dritten Flotte. »Das wäre Edwyn Griffyth.«
»Anscheinend hast du nicht richtig zugehört«, sagte der oberste Meeresmagier und zog die silbernen Augenbrauen zusammen. »Ich habe keine Lust, über jemanden oder etwas zu herrschen. Falls ich gewählt werde, fliehe ich auf den höchsten Berg oder in die tiefste See und verstecke mich, bis ihr euch wieder gegenseitig umbringt. Ich werde niemals ich will es für diejenigen unter euch wiederholen, die völlig taub sind niemals den Titel eines Herrn der Cymrer annehmen.«
Rhapsody seufzte innerlich auf. Sie war nicht für eine Führungsrolle geboren und hatte nicht gewusst, dass man sie auch von vornherein ablehnen konnte. Das musste sie sich unbedingt merken.
»Damit wäre der Titel an Llauron gefallen, aber er ist ja tot«, sagte derselbe Mann, der den ältesten Bruder vorgeschlagen hatte.
»Nun, in gewisser Hinsicht stimmt das«, sagte eine tiefe, gepflegte Stimme, die aus den Felsen der Senke drang und alle Streitereien erstickte. Jedermann in der Senke spürte diese Stimme in seinen Füßen. »Ich bin trotzdem gekommen und hoffe, dass es niemandem etwas ausmacht. Ich habe den Ruf schließlich auch gehört.«