Das Schweigen in der Senke wurde durch nichts unterbrochen. Anborn lächelte. Es war ein siegreiches Lächeln, das einen Atemzug später einem ernsten Ausdruck wich. »Ich habe nur meine Pflicht getan, nicht aus Liebe zu meinem Vater oder Hass gegen meine Mutter, sondern aus demselben Grund wie mein Bruder und ihr alle. Ich wollte das verteidigen, was ich für verteidigenswert hielt. In all dem Wahnsinn bin ich über mein Ziel hinausgeschossen, und dafür entschuldige ich mich. Besonders bitte ich die neue lirinsche Königin und ihr Volk um Entschuldigung nicht nur für die Belagerung ihrer Städte, sondern auch für das, was meine Mutter und mein Vater ihnen angetan haben. Es war nicht ihr Krieg, aber sie haben trotzdem sehr unter ihm gelitten.
Neben unseren Grausamkeiten in diesem Krieg gab es jedoch auch zahllose Taten des Mitleids. Wir alle haben nur versucht, dem zu dienen und treu zu sein, was wir lieben. Die Einzigen, von denen das nicht stimmt, waren Anwyn und Gwylliam selbst. Wir haben in dieser Nacht viele Beschuldigungen gegen meine Mutter gehört, während die Verbrechen meines Vaters anscheinend übergangen wurden, aber ich sage als sein Erbe und General, dass Gwylliam genauso viel Schuld an diesem Krieg trug wie meine Mutter. Er war es, der ihn begann, und sein Stolz gebot ihm, ihn immer weiter zu treiben. Als sein Erbe und Sprecher der Dritten Flotte, seines Heeres, entschuldige ich mich in seinem Namen bei der Ersten Flotte für die Verbrechen, die an ihr verübt wurden.«
Es folgte ein Augenblick betroffener Stille. Dann trat Oelendra vor.
»Als Sprecherin für die Erste Flotte nehme ich deine Entschuldigung an und entbiete unsere wiederum der Dritten Flotte.« Eine Welle des Beifalls schwoll an und brach in Pfiffen und Jubelrufen zusammen. Anborn hielt das Konzil in seinem Bann, und er wusste es. Er räusperte sich und fuhr fort:
»Wie unsere neue Herrin gesagt hat, müssen wir uns vergeben. Ich habe versucht, unsere Verbrechen wieder gutzumachen, indem ich den neuen Ländern, die sich nach dem Krieg gebildet haben, so gut wie möglich gedient habe. In Roland und Dronstal, in den Gebieten der Nain und von Sorbold und in vielen anderen Königreichen bin ich als Soldat und Anführer bekannt. Als solcher spreche ich heute Nacht zu euch, nicht als Gwylliams Erbe oder Sprecher der Dritten Flotte, sondern als ein Mann, der mehr unter den Völkern dieses Landes gelebt hat als jeder andere. Deshalb habe ich heute Nacht einige Wahrheiten begriffen. Die erste ist, dass die Verantwortung für die Zusammenführung der Völker dieser neuen Welt bei uns selbst liegt, denn dies ist nicht mehr die neue Welt, sondern unsere Heimat, und wir sind verantwortlich für ihre Politik und ihren Frieden, wie wir es vor dem Krieg waren, der das Land auseinander gerissen hat. Und die Völker dieses Landes brauchen Frieden einen Frieden, den ihnen nur die Cymrer geben können. Doch wir können dieses Land nur zum Frieden führen, wenn wir selbst von jemandem geführt werden, der wie ich inmitten der Bevölkerung gelebt hat.«
Rhapsody schnürte es die Kehle zu. Anborn riss unter ihren Augen die Herrschaft an sich. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
»Es wurde auch gesagt, dass mein Haus allein den Führer stellen kann. Auch das stimmt, denn wir bilden das Band zwischen den Rassen und Königreichen. Allein die Kinder von Anwyn und Gwylliam binden die neue und die alte Welt zusammen. Nur im Haus der Seren-Könige sind die Rassen zusammengekommen. Nur ein einziger Mann unter uns kennt die Heere und Hospitäler, die Bauern und Könige, als wäre er einer von ihnen. Nur ein Mann stammt von allen Flotten ab und hat sowohl das Amt des Fürbitters als auch des Patriarchen inne. Er stammt nicht nur von der Ersten und Dritten Flotte ab, sondern auch von der Zweiten. Und deshalb nominiere ich, Anborn ap Gwylliam, Sohn von Anwyn, Herzog Gwydion ap Llauron ap Gwylliam aus dem Hause Neuland, Sprecher der Zweiten Flotte, Sohn von Anwyns erwähltem Erben, Kirsdarkenvar, zum Herrn der Cymrer. Er hat im Krieg keiner Seite gedient, sondern sein ganzes Leben selbstlos der Heilung des Risses gewidmet, der durch den Krieg entstanden ist. Könnte jemand anderes diese Rolle besser ausfüllen?«
Brüllende Zustimmung schwappte durch die Senke und ergoss sich über die Felder. Sie rollte die Zahnfelsen hoch, drang in die Höhlen der Bolg ein und störte erneut ihren Schlaf. Der Lärm hallte über das Heer von Roland hinweg und rief in ihr silberne Schauer der Hoffnung auf Frieden wach, obgleich sie für den Krieg gerüstet waren.
Durch den Rufersims spürte Rhapsody, wie der Gerichtshof entschied, dass Gwydion die beste Wahl war, und ihn als Herrn benannte. Ashe aber starrte Anborn erschrocken an. Sein Onkel lächelte nur und streckte ihm die Arme entgegen, als ob er ihn der Menge vorstellte.
»Das Haus Fergus enthält sich!«, rief jemand aus der Zweiten Flotte. Die Gruppe brach in Gelächter aus. Anscheinend handelte es sich um eine alte Rivalität und war kaum mehr als ein Witz. »Ja, wenigstens haben sie nicht dagegen gestimmt«, sagte jemand zu Ashe mit freundlich plärrender Stimme.
Der Jubel wurde lauter, und die rasende Menge hob Gwydion auf die Schultern und feierte ihn. Gleichzeitig erstürmten einige den Rufersims, auf dem Rhapsody stand, und hofften, mit ihr reden oder sie berühren zu können.
Rhapsody wich vor ihnen zurück. Sie rannte über den Grat, der von dem Rufersims herunterführte, und warf sich Grunthor in die Arme.
»Hol mich hier heraus!«, keuchte sie.
Der riesige Firbolg nickte, trug sie über die Felsvorsprünge und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als sie zu einer Stelle kamen, welche die Cymrer noch nicht erreicht hatten, setzte er sie ab, ging neben ihr her und verbarg sie vor den Blicken der anderen. Sie eilten auf den Ausgang der Senke zu, der neben dem Eingang zum Kessel lag.
Auf ihrem Weg aus der Senke hörte Rhapsody, wie eine Stimme ihren Namen rief. Es lag eine Dringlichkeit darin, die sie nicht ignorieren konnte. Sie drehte sich um und sah eine Liringlas-Frau, die mit offenen Armen auf sie zulief. Sie war etwa so alt wie Rhapsodys Mutter, als sie diese zum letzten Mal gesehen hatte, und obwohl die Frau ganz anders aussah, schnürte sich Rhapsody der Hals zu.
Als die Frau auf Armeslänge herangekommen war, streckte sie die Hände aus. Rhapsody ergriff sie, obwohl sie immer noch nicht wusste, wer diese Frau war. Sie starrte die Sängerin verwundert, aber ohne Scheu an. Tränen lagen in ihren Augen; sie glitzerten in der Dunkelheit, als sie über die feinen Linien liefen, welche die rosige Haut des Gesichtes durchzogen.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte sie sanft. Es war etwas Vertrautes an ihr, doch auch nachdem Rhapsody sie aufmerksam betrachtet hatte, konnte sie die Frau nicht einordnen. Die Menge der erregten Cymrer kam näher.
»Nein, ich fürchte nicht. Es tut mir Leid«, antwortete sie.
»Ich bin es, Analise«, sagte die Frau und schluchzte auf.
Rhapsody dachte nach, und dann weiteten sich ihre Augen vor Verwunderung. Sie war das Kind, das Michael, der Wind des Todes, Petunia genannt und das sie ihm entrungen hatte. Zum letzten Mal hatte sie Analise an jenem Tag gesehen, als sie unter dem Schutz von Nanas Wachen in die Weiten Wiesen gegangen waren, um die Führerin der Lirin zu suchen, die dort lebte. Es war eine traurige Trennung gewesen, aber Rhapsody hatte schon so oft einer geliebten Person Lebewohl sagen müssen. Die Lirin hatten das Kind freundlich aufgenommen, und Rhapsody hatte sich lange mit dem Bild getröstet, wie sie vor der Führerin auf deren Pferd saß, Rhapsody zuwinkte und lächelte. Beide hatten gewusst, dass man gut für Analise sorgen würde.