Tränen traten ihm in die Augen und rollten an den Wangen herab. Er versuchte, gefasst zu bleiben, aber es gelang ihm nicht. Schnell wandte er sich von ihr ab und ging zum Kleiderhaken, nahm seinen Nebelumhang und rannte die Treppe hinunter. Er verfluchte sich wieder dafür, über ihre Tränen gelacht zu haben. Nun war sie von seinen sicherlich unbeeindruckt.
Als Gwydion die Schwelle der Vordertür erreicht hatte, hörte er Rhapsody von oben rufen.
»Ashe?«
Er drehte sich um, ging zurück zum Fuß der Treppe und schaute hoch zu ihr. Ihre Augen waren vor Angst geweitet, und die unordentlichen, schimmernden Haare umwallten ihre Schultern. Sie trug immer noch nichts als sein Hemd und sah wie die perfekte Männerphantasie in Bedrängnis aus.
Langsam kam sie die Treppe herunter. Als sie nur noch wenige Stufen über ihm stand, bewegte sich ihre Hand, die vom viel zu langen Ärmel verborgen wurde, zum Kragen des Hemdes und enthüllte ihren schönen Hals mit der goldenen Kette. Ihre Bewegungen waren zögernd, doch ihre Augen blickten voller Mitgefühl.
»Ich entbinde dich von deinem Versprechen«, sagte sie. »Was wolltest du mir mitteilen?«
»Ich liebe dich«, sagte er. Die Worte kamen ungebeten aus dem einsamsten Ort seines Herzens. Obwohl es nicht das war, was er hatte sagen wollen, war es doch die ehrlichste Antwort auf ihre Frage und das Einzige, zu dem er fähig war. In den 885
Worten schwangen Verlangen, Tiefe und so viel Schmerz mit, wie ihn alle Ozeane zusammen nicht aufnehmen konnten. Diese Worte verbanden zwei Welten, zwei Leben, und ihre Heftigkeit erfüllte Rhapsodys Herz mit Trauer und ihre Augen mit Tränen.
»Du solltest gehen«, sagte sie sanft.
Durch seine eigenen Tränen sah er kaum die ihren. »Willst du mir damit sagen, dass du mich nicht mehr liebst, Aria?«
Sie sah zu Boden. »Nein«, sagte sie, den Blick auf die Füße gerichtet. »Ich habe dir gesagt, ich werde dich immer lieben. Das wird sich nie ändern. Aber es ist nicht mehr von Bedeutung.«
»Das siehst du falsch, Rhapsody. Es ist das Einzige, was von Bedeutung ist. Das Einzige.« Er seufzte und spürte, wie die Pein ein wenig nachließ und allmählich Wärme in seine Seele zurückkehrte. »Ich weiß, dass ich kein Recht habe, das noch einmal von dir zu erbitten, aber willst du mir ein letztes Mal vertrauen? Willst du einfach nur hören, was ich dir zu sagen habe? Diesmal bis zum Ende?«
Rhapsody erkannte die Dringlichkeit in seinen Augen. »In Ordnung«, sagte sie zögernd.
»Aber dann gehst du.«
»Ja. Wenn du es dann noch verlangst, werde ich gehen. Das verspreche ich.«
Ein unwilliges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du solltest aufhören, etwas zu versprechen, was du nicht halten willst.«
»Ich will mein Versprechen unter allen Umständen halten«, sagte er. »Können wir wieder nach oben gehen? Ich glaube nicht, dass die Treppe der beste Ort für dieses Gespräch ist.«
Rhapsody errötete. »Vermutlich hast du Recht«, meinte sie und sah verlegen drein. »Kann ich mir wenigstens einen Morgenmantel umlegen?« Sie sah auf ihre bloßen Beine, und auch der Rest ihres Körpers wurde rot. Sie drehte sich um und ging die Treppe hoch.
»Warum so viele Umstände?«, fragte er. Eine Spur seines alten Humors kehrte zurück.
»Vielleicht gehe ich ja gleich wieder; das ist kaum der Mühe wert.«
Rhapsody kehrte in den Sessel zurück und zog die Decke über sich. Gwydion setzte sich wieder auf den Boden und zog noch einmal das Kästchen mit dem Ring hervor.
»Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, ich hatte dich gebeten, das hier anzuziehen. Weißt du, Rhapsody, wenn du das tust, wirst du alles verstehen. Es wird uns viele Stunden des Erklärens ersparen. Obwohl ich unseren kleinen Streit genossen habe, kann ich auch gut ohne den Zusammenstoß mit einem Buch leben. Bitte erweise mir den Gefallen, meine Mitregentin. Wenn du das tust, wird meine Frau dadurch in keiner Weise bloßgestellt, das schwöre ich.«
Rhapsody musste lächeln. »In Ordnung«, sagte sie und nahm den Ring aus dem Kästchen. In ihrer Hand glitzerte das Schmuckstück mit einer Helligkeit, die sich in ihren Augen widerspiegelte. Sie dachte an andere Augen und einen Nachthimmel in einem anderen Leben. Sie drückte den Ring kurz und spürte die Musik, die von ihm ausging. Ganz Elysian schien in sie einzuschwingen und sanft zu summen, als spielte es die Ouvertüre zu einer bevorstehenden Sinfonie.
»An die linke Hand«, erklärte Gwydion leise. Sie sah ihn misstrauisch an. »Bitte. Vertrau mir.«
Rhapsody steckte sich den Ring an den Finger. Einen Moment lang schaute sie ihn an und wartete auf die große Enthüllung, doch es kam keine. Ihr gegenüber begann die große Perle zu summen. Das Strahlen der Diamanten und des Smaragds im Ring wurde so heftig, dass sie wegschauen musste. Dabei erhob sich Gwydion auf ein Knie, beugte sich vor und küsste sie liebevoll im grellen Leuchten des Rings.
Die Musik wurde lauter, und jeder Ton wurde von einer neuen Harmonie abgelöst. Sie schwoll an, erfüllte zuerst den Raum, dann das Haus, die Insel, die Grotte und schließlich das gesamte unterirdische Herzogtum von Elysian mit dem schönsten Lied, das sie je gehört hatte. Es baute sich zu einem donnernden Crescendo auf und verflüchtigte sich wieder zu den leisesten Tönen, wobei es seine Harmonie beibehielt. Wie eine Flagge, die der Wind von ihrem Pfahl reißt, befreite sich das Lied plötzlich und schwang davon. Es tanzte durch die Luft und über den See und berührte jede Ecke der Höhle mit Freude.
Rhapsodys Blick kehrte zu Gwydion zurück, der sie eindringlich ansah. Als sie sein Gesicht betrachtete, sah sie es auch vor ihrem inneren Auge: undeutliche Bilder aus der vergessenen Nacht, die allmählich zurückkehrten. Sein Antlitz nahm verschiedene Ausdrücke an, alle zeugten von großer Freude. Rhapsody war auf den Ansturm der Erinnerungen schlecht vorbereitet und prallte zurück. Sie streckte die Arme nach Ashe aus. Er packte sie, als sie im Sessel schwankte. Ihre Augen bettelten um Hilfe, bevor sie nach oben rollten und die Welt im Brausen der Erinnerungsflut dunkel wurde.
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»Ich hätte dich nie für eine der Frauen gehalten, die Ohnmachtsanfälle erleiden, aber in letzter Zeit kommt so etwas bei dir wohl öfter vor.«
Gwydions klare Stimme drang durch den Nebel, der ihre verwirrten Gedanken umgab. Die anderen Stimmen, die sie hörte, waren von der Erinnerung unterdrückt und kämpften um die Herrschaft in ihrem Verstand. Rhapsody bemühte sich, zu Bewusstsein zu kommen, doch sie erkannte nur, dass sie auf ihrem Bett lag, denn ihre Wange schmiegte sich gegen die steife Spitze, die das Kissen aus Flanell umrahmte. Sie verlor den Kampf um die Gegenwart und ergab sich den Stimmen aus der Vergangenheit.
Sie hörte die Worte ihres Eheversprechens, die so schön waren, wie nur eine Sängerin und ein Drache sie sprechen konnten, die jemanden zwei verschiedene Leben hindurch geliebt hatten. Sie hatte den Gesang, den die Gelöbnisse hervorgebracht hatten, an die Grotte gerichtet, sodass Elysian selbst zur Zeugin ihrer Liebe geworden war. Das Lied schwang immer noch in der unterirdischen Welt und erhellte die Höhle nun, da die Erinnerung zurückkehrte, mit Freude.
Dann änderte sich das Bild, und sie sah andere Gesichter und hörte andere Stimmen. Ich werde deinen Sohn nicht mehr sehen, Llauron. Ich habe getan, was du von mir verlangt hast.
Wir haben uns getrennt.
Wie schade. Und das, nachdem ich ihm meinen Segen gegeben habe. Es ist eine Schande. Es tut mir Leid, meine Liebe.
Rhapsody warf sich in ihrem Komaähnlichen Zustand von einer Seite auf die andere. Es sind alles Lügner, hatte Achmed beharrlich behauptet. In der alten Welt wusste man wenigstens, wer die Bösen waren, weil sie es frei heraus zugegeben haben. Hier sind die angeblich Guten berechnend. Das alte Böse hätte niemals einen solchen Schaden anrichten können wie der Herr und die Herrin der Cymrer. Und du willst dich auf einem Silbertablett dem größten Lügner von allen anbieten.