Er erinnerte sich an die Worte seiner Schwertkampflehrerin Oelendra Andaris. Ich diene keinem Herrn, sondern einem Volk, hatte sie gesagt. Wenn jene, die herrschen, auch dienen, dann werde ich meine Treue einer Krone geloben. Aber erst dann. Für sie beide, Oelendra und Anborn, beide Blutsverwandte, keiner unwiderruflich vom Krieg verletzt, war die Zeit gekommen, in der sie wieder an etwas glauben konnten. Friede erschien wie die heraufziehende Dämmerung am Himmel.
Er richtete seine Gedanken auf Rhapsody, wie so oft, wenn er an nichts Besonderes dachte. Anborn fragte sich, was sie in diesem Augenblick wohl tat, aber er unterdrückte diese Überlegungen. Er hatte die Blicke gesehen, die sie und Gwydion sich zugeworfen hatten. Falls sein Neffe kein völliger Narr war, konnte er sich gut vorstellen, was sie nun taten, und es wäre nicht schicklich, weiter darüber nachzudenken.
Er lachte und erfreute sich an der Wendung der Ereignisse und dem Versprechen eines Neuanfangs. Freude überrollte ihn gleich einer Welle und fuhr ihm durch die Haare, die wie sein Mantel flatterten. Sein Glück war so groß wie der Sternenhimmel über ihm, der fern am Horizont ein wenig heller wurde und den herannahenden Tag ankündigte.
Anwyn setzte das Hörn an die Lippen und blies hinein.
Der Schall wurde nicht in dieser Zeit und von keiner lebenden Seele vernommen. Er hallte durch das Reich der Vergangenheit, wie schon viele Jahrhunderte zuvor. Er quoll aus dem silbernen Hörn und schwebte in der schweren Luft uralter Erinnerungen.
Nach langem Widerhall regnete er langsam aus der Luft herab und ließ sich in der Erde nieder.
Anwyn lächelte und schloss die Augen. Mit einer Stimme, die hohl vor lauter Erinnerung klang, setzte sie zu ihrem Lied an.
Der Überfall auf Farrows Hügel.
Die Belagerung von Bethe Corbair.
Der Todesmarsch der cymrischen Nain.
Der Brand der westlichen Dörfer.
Kesel Tal
Tormingorllo.
Das Lingen-Tal.
Die Schlacht an der Wynnarth-Festung.
Die Vergewaltigungen im Wasserlager von Varim.
Der Angriff auf das südöstliche Gesicht.
Die Ausweidung der vierten Kolonne.
Die Massenexekution der Bauernsiedlungen der Ersten Flotte.
Die Schlacht auf den canderianischen Feldern.
Geduldig zählte sie eine schreckliche Geschichte nach der anderen auf jeden Konflikt aus dem Großen Krieg, der von dem F’dor angestachelt, aber durch einfachere Umstände entfacht worden war: Wut, Verrat, Eifersucht, Machthunger. Und Hass, der noch älter war als die Vorzeit.
Als sie all die großen Verluste des Krieges genannt hatte, ging sie über zu jedem einzelnen Scharmützel, zu jedem einzelnen Ort, an dem Menschen den Machenschaften des Dämonengeistes zum Opfer gefallen waren.
Als die Litanei vollendet war, setzte sie abermals das Hörn an die Lippen und blies es. Anwyn öffnete die Augen. Sie lächelte.
Als Anborn den Kamm eines großen Hügels erreichte, scheute sein Pferd vor Angst. Anborn zügelte es und besänftigte das Tier. Dann warf er einen Blick über die Schulter, weil er sehen wollte, was das Tier erschreckt hatte.
Einen Moment lang bemerkte er nichts in der Finsternis. Als er allmählich Einzelheiten erkannte, loderte das Blut des Drachen in ihm vor Panik auf.
»Guter Schöpfer«, murmelte er. Die Worte blieben ihm im Halse stecken.
Die Dunkelheit unter seinen Füßen bewegte sich.
Die ganzen weiten Krevensfelder bewegten sich.
Sofort lenkte Anborn sein Pferd von dem Hügel herunter und galoppierte zurück zum Gerichtshof, während der Boden hinter ihm aufbrach.
83
Dunst hing über dem Gerichtshof. Es war nicht nur der wabernde Nebel, der sich des Morgens in der Senke sammelte, sondern eine Wolke aus menschlichem Atem, ergänzt von den Ausdünstungen des Alkohols. Der Große Cymrische Nebel, wie er später scherzhaft genannt wurde, hob sich, wie Ashe vorhergesagt hatte, etwa zur selben Zeit, als die Sonne ihre höchste Position einnahm und auch den hartnäckigsten Tagesschläfer zwang, zu blinzeln, aufzustehen und sich für die zweite Sitzung des Konzils bereit zu machen.
»Welch eine Verschwendung«, flüsterte Rhapsody Gwydion zu, als sie die menschlichen Wracks beobachteten, die in der Senke umhertaumelten und ächzten, während die cymrischen Aufseher wieder einen klaren Kopf zu bekommen versuchten. »Ich kann mir eine nettere Form von Ausschweifung vorstellen, als sich einfach bewusstlos zu saufen.«
»Guter Gedanke«, meinte Gwydion und streichelte ihre Hinterbacken.
Rhapsody hatte Oelendra aufgespürt und ihr die Neuigkeiten mitgeteilt. Die lirinische Meistern weinte vor Freude und bedachte ihre Königin mit einer Umarmung, die mütterlicher war als alles, was Rhapsody seit ihrer Abreise aus der Heimat erlebt hatte. Der neuen cymrischen Herrin schnürte es die Kehle zu. Als sie sich losmachte, schimmerten ihre Augen wie die ihrer alten Freundin.
Sie hatte ein Kleid aus azurblauer Seide angelegt, das an Armen und Hüfte eng anlag, bevor es sich zu einem weiten Rock bauschte, um den sie die Tagessternfanfare in einer Hüftscheide gegürtet hatte. Gwydions Augen hatten geleuchtet, als er sie in dieser Aufmachung gesehen hatte, und er hatte ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.
»Welch ein wunderbares Kleid, wirklich königlich.«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Das ist nur Tarnung. Ich hoffe, ich verschmelze mit dem Himmel. Vielleicht sehen sie mich dann nicht und lassen mich in Ruhe.«
Der Beifall, mit dem der neue Herr und die Herrin begrüßt wurden, war verhaltener als in der Nacht ihrer Wahl, was hauptsächlich den Kopfschmerzen zuzuschreiben war, die allzu heftiges Klatschen und Pfeifen der Versammlung zugefügt hätte. Die Atmosphäre schien sich jedoch rasch zu klären, als Ashe auf die Kanzel stieg, seine Herrin präsentierte und dann um Ruhe für eine wichtige Ankündigung bat.
»Mit großer Freude und vollendeter Demut verkünde ich euch die wunderbare Neuigkeit, dass die cymrische Herrin gnädig zugestimmt hat, meine Gemahlin zu werden.«
Die cymrische Menge schwieg für kurze Zeit. Dann rauschte eine Woge der Erregung durch die Senke und schwoll zu einem zustimmenden Brüllen an. Beifall und Hochrufe in unzähligen Sprachen brachen aus. Die so genannten Bergmesser, die Abordnung der Nain, die Ashe ihr in der Mittsommernacht des vergangenen Jahres beschrieben hatte, stießen ein Kriegsgeschrei aus, das den Gerichtshof erschütterte. Viele ihrer cymrischen Gefährten fühlten sich dabei, als würde ihnen der Kopf gespalten. Rhapsody lächelte die johlende Menge an. Die Sonne spiegelte sich in ihren Rüstungen und Bannern mit einer Helligkeit wider, die Hoffnung auf ein neues Zeitalter machte.
Eine Stimme, die sie vom Tag zuvor als Zwischenrufer aus dem Hause McLeod erkannte, rief durch den fröhlichen Lärm:
»Gwydion ap Llauron, Enkel von Gwylliam dem Misshandler und Anwyn der Beeinflusserin, wie hast du diese Dame bekommen? Sie stammt nicht aus deiner Linie. Was der Grund dafür ist, dass sie so gut aufgenommen wurde? Kannst du der Versammlung garantieren, dass bei dieser Übereinkunft keinerlei Gewalt im Spiel war?«
Das Gebrüll verstummte. Gwydions Gesicht wurde weiß, und seine Hände zitterten vor wachsender Wut. Die Freude, die noch einen Moment zuvor in seinen Augen gelegen hatte, verschwand bei dieser Beleidigung und wurde von etwas Dunklem, Reptilienhaftem ersetzt. Am vergangenen Tag hatte er viele Beschimpfungen und Verleumdungen seiner Familie und seines Hauses ertragen und alle mit Freundlichkeit aufgenommen, doch die Unterstellung, er könne die Hand gegen seine Braut erheben, ging über seine Kräfte. Bevor er etwas sagen konnte, hob Rhapsody die Arme.