»Ich kann es garantieren«, sagte sie. Ihre Worte trugen den Stempel der Wahrheit, und in ihnen lag eine Spur Belustigung. »Ich bin froh, sagen zu dürfen, dass ich zu solchen Mitteln keine Zuflucht nehmen musste. Er hat freiwillig zugestimmt. Ich fürchte, ich habe das Schwert und die Daumenschrauben umsonst gekauft.«
Die Menge nahm ihre Worte zunächst schweigend auf, dann brach sie in Gelächter und Beifall aus, der die Wände des Gerichtshofes erschütterte und von den Zahnfelsen widerhallte; er brandete über Gwydion hinweg und spülte seinen Zorn fort.
Gwydion blinzelte und sah hinunter auf Rhapsody. Sie lächelte ihn an und schenkte ihm einen Blick vollsten Vertrauens, der ihr Antlitz geradezu ätherisch machte. Auch auf Gwydions Gesicht zeigte sich nun ein Lächeln. Rhapsody nahm seinen Kopf zwischen die Hände, reckte sich und küsste ihn vor den Augen des Konzils.
Er zog sie in seine Umarmung, und die fröhlichen Rufe schienen zu verstummen. Es war, als ob sie die Einzigen an diesem Ort wären. Ihre Lippen trafen sich sanft, dann wurde der Kuss drängender, und als sein Körper darunter erzitterte, wurde sich Gwydion wieder des donnernden Lärms aus der Versammlung bewusst. Der Aufruhr erschütterte den Boden unter ihren Füßen. Zumindest glaubte er, es sei der Lärm der Menge. Er wusste, dass es sich genauso angefühlt hätte, wenn er Rhapsody allein auf der Heide oberhalb von Elysian geküsst hätte.
Der süße Duft von Rhapsodys Haut und die Freude darüber, sie endlich wieder in den Armen zu halten, waren wohl verantwortlich für die Verdunkelung seiner Sinne. Sie waren der Glücksschild, der ihn vor dem anwachsenden Rumpeln in der Erde abschirmte. Es wurde von einer unheimlichen Stille begleitet, die über die Menge hinwegfuhr und den Jubel er stickte.
Und als er endlich erkannte, was geschah, war es schon zu spät.
84
Grunthor war der Erste, der die Veränderung spürte. Der Druck in seinem Kopf pflanzte sich fort wie das Gefühl im Ohr, wenn er einen hohen Berg erstieg. Dann schien etwas in ihm zu platzen, als sich die Erde unter seinen Füßen auf schlimme Weise veränderte.
Achmed sah seinen Freund fragend an. Die Veränderung, welche den Sergeant-Major überkommen hatte, war unübersehbar. Die weit aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen wurden glasig, die Haut in der Farbe eines Blutergusses wurde rot, und er blähte die gewaltigen Nasenflügel, während sein Herz große Mengen Blut pumpte. Er starrte kurz nach Westen, spannte die Muskeln an und schoss vom Rand der Senke hinunter auf die gespannt wartende Versammlung.
»Runter vom Hügel!«, brüllte er Rhapsody zu und rannte mitten in die Menge der verwirrten Cymrer, die noch vor einem Augenblick fröhlich gefeiert hatten. »Bewegt euch! Bewegt euch!« Seine Stimme donnerte durch die Luft und über die erstaunte Bevölkerung hinweg, die vor Angst erstarrt war. Er trieb sie in alle Richtungen fort von der sanften Erhebung in der Mitte der Senke. Es war nur für den Bolg-Riesen spürbar, dass sie bebte.
Rhapsody hatte sich nach Grunthors Ruf aus Gwydions Umarmung befreit und sah in die entsetzten Gesichter der cymrischen Menge, die sich rasch vor Grunthor teilte und zerstreute. Noch waren keine Schreckenslaute zu hören; alles war unheimlich still. Sie schaute zurück zu der Kanzel und riss entsetzt die Augen auf.
»Das Hörn ist fort«, sagte sie zu Gwydion und rief dann auch Achmed zu: »Das Hörn ist fort!«
Achmed drehte sich nicht um, sondern nickte nur. Im nächsten Augenblick hörte er Alarmrufe von den Wachen und von Tristans Heer im Westen. Er wirbelte herum und schirmte die Augen vor der hellen Mittagssonne ab.
Ein Reiter galoppierte über die Krevensfelder und trieb sein Pferd gnadenlos an. Selbst aus der großen Entfernung hörte der Bolg-König seine heiseren Warnrufe. Das orlandische Heer regte sich und sammelte Waffen und Rüstungen ein. Plötzlich ertönte ein weiterer Ruf.
»Es ist Anborn! Macht das Tor auf!«
Hinter ihm schwebte es schwarz im Himmel. Rauchwolken türmten sich auf, als wäre ein Vulkan mitten in der Luft ausgebrochen. Während Anborn näher kam, holte ihn der schwarze Rauch beinahe ein. Es war eine so breite Wand, dass sie von einem gewaltigen, durch heftigen Wind angefachten Buschfeuer herrühren konnte, doch bald wurde deutlich, dass es kein Feuer gab. Es war die Erde selbst, die sich auf der weiten Ebene geöffnet hatte und durch die schiere Kraft dieser Verwerfung Staub und Schotter ausspie.
Im Schatten dieser Dunkelheit marschierte ein Heer. Zuerst schienen es Legionen von Tieren zu sein, denn viele gingen nicht aufrecht, sondern schleppten sich über das Land, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangezogen. Rhapsody keuchte auf und packte Gwydion am Arm. Sie erinnerte sich an ihre Vision im Turm des Observatoriums.
»Das sind die cymrischen Toten, die Gefallenen, die im Großen Krieg getötet wurden.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Anwyn hat sie aus der Vergangenheit herbeigerufen.«
Das Meer aus wandelnden Leichnamen erstreckte sich bis zum Horizont und tauchte den Rand der Welt in Schwärze. Die Überreste jedes Leichnams, der auf der Ebene oder in den Bergen geblieben war und nicht geopfert oder sich in anderer Weise völlig aufgelöst hatte, war durch die schiere Kraft der Erinnerung wieder belebt worden und kroch, taumelte oder glitt nun auf den Gerichtshof zu. Sie befanden sich inmitten eines Meeres aus Tod, Verwesung, Krankheit und menschlichen Fragmenten, die im Bann von Anwyns Zorn standen.
Von den Gipfeln der Zahnfelsen drang ein Brüllen wie gefangener Donner durch die Berge. Lawinen aus Geröll und Erde lösten sich vom Griwen und tosten durch Canrif und über alle kleineren Gipfel des Vorgebirges hinweg, bis sie in einem gewaltigen Hagel aus Schutt auf den Gerichtshof herabregneten. Aus den Bergen kamen weitere Soldaten Anwyns. Es waren wieder belebte Nain und Lirin, Menschen und Halbmenschen, Erwachsene und Kinder, allesamt Opfer von Anwyns und Gwylliams großem Irrsinn, die aus den Grüften der Toten krochen und dem Schall des Horns antworteten, wie sie es vor langer Zeit schon einmal getan hatten.
Vor dem Gerichtshof stellte sich das Heer von Roland, hunderttausend Mann stark, in Schlachtreihen und Legionen auf. Rhapsody erschauerte bei diesem Anblick. Zuvor waren sie ihr als gewaltige Streitmacht erschienen, die durch ihre schiere Zahl Achmeds Herrschaft über den Berg bedrohte, doch jetzt waren sie etwa hundert zu eins in der Minderheit. Sie hatte keine Zeit zum genauen Zählen.
Aus dem Bauch der Senke drang ein donnerndes Rumpeln. Der Boden warf Blasen und brach kurz darauf auf. Er zerschmetterte und schluckte Cymrer aus allen Flotten, denen es nicht gelungen war, aus dem Weg zu springen. Unter den Entsetzensschreien der Cymrer krochen weitere Totenkrieger aus vergessenen Massengräbern herbei. Sie steckten in Grabgewändern oder Resten von Leichensäcken und hielten verrottete Speere und Schwerter in der Hand. Ihre blicklosen Augen richteten sich auf die zerstiebenden Massen, die wie Krähen vor einem Sturm flohen.
Grunthor und einer kleinen Gruppe, die er eingezogen und aus seinem persönlichen Bestand bewaffnet hatte, war es gelungen, sich zwischen die fliehenden Pilger und die unzähligen herannahenden Beerdigten zu stellen. Gleichzeitig schrie Grunthor Befehle in Richtung des Walls, um das verborgene Heer der Bolg zu mobilisieren.
Inmitten des Erdbebens spürte Rhapsody, wie sich ein Gefühl der Ruhe um sie legte und den Zorn dämpfte, der hinter ihren Augen brannte. Rasch warf sie einen Blick in die Senke, die nun überall unter den Füßen der Lebenden aufbrach. Sie schäumte und wogte wie eine irdene See und füllte sich mit Wellen aus Toten.