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Sein Blick wanderte über das Bildnis seines Vaters, eines Mannes, dem er nie persönlich begegnet war. In der Kraft seiner Jugend und Gesundheit erkannte Meridion ihn kaum. Im alten Leben warst du zu dieser Zeit bereits unwiderruflich im Wahnsinn versunken, gebrochen an Körper und Geist, dachte Meridion, während er zusah, wie die Luftströmungen in der Glaskugel seines Observatoriums das Bild verzerrten und es so aussah, als ob Gwydion auch jetzt noch liefe, auf ewig gefangen in freudiger Bewegung. Auch für dich bin ich froh.

Wie seltsam es doch war, sann er, als er zu der Maschine zurückkehrte, dass er solche Gefühle und Beziehungen Leuten gegenüber hegte, die er nie persönlich getroffen hatte.

Die Zeit hämmerte schwer in seinen Ohren. Schließlich fasste Meridion den Mut, durch die Glasscheiben des Observatoriums auf die darunter liegende Welt zu sehen Er atmete langsam ein und stieß den Atem in Schüben wieder aus.

Das Feuer war gewichen, ja sogar vom Antlitz der fernen Erde verschwunden. Nun sammelten sich Wolken über den blaugrünen Meeren, wirbelten im Wind, flogen um die Bergspitzen und verschleierten seinen Blick. Wie es sein sollte, dachte er und schüttelte die Melancholie ab, die in sein Herz brandete. Kein Mann sollte einen so klaren Blick auf die Welt haben, wenn er in ihr leben will.

Er bückte sich neben dem Zeit-Editor und hob sorgfältig die versengten Fetzen des Zeitfilms auf, die in verbranntem Konfetti und zerrissenen Bändern vor seinen Füßen lagen. Sorgsam durchsuchte er sie, bis er auf ein Fragment stieß, das er vor nicht langer Zeit hatte fallen sehen, als die neue Geschichte die alte wie ein frisch gegrabenes Flussbett oder einen neuen Teppich ersetzte, der aus den Fäden des alten gewebt war, aber andere Muster aufwies. Die zerknitterten Stücke wurden durchscheinend, lösten sich auf dem Boden auf und waren nun aus der Zeit und der Geschichte verschwunden. Bald würde nichts mehr von ihnen übrig sein, nicht einmal die Erinnerung an sie, denn in der Wirklichkeit waren sie jetzt nur noch Überbleibsel aus einer Vergangenheit, die nie existiert hatte.

Meridion hielt den Filmstreifen gegen das Licht. Zufrieden zog er ihn über eine zweite Lampe auf der Instrumententafel des Zeit-Editors und warf die Bilder an die Wand gegenüber dem Bildschirm, der seine Eltern zeigte.

Im schwachen Licht konnte er kaum das Bild erkennen. Es war eine kleine, ältliche Gestalt in blasser Robe, in welche die Symbole der alten Benenner eingewoben waren. Das lange Haar der weiblichen Gestalt war so weiß wie Schnee, zu einem Zopf geflochten und von einem einfachen schwarzen Band zusammengehalten. Ihr Gesicht war runzlig und zerfurcht, ihr Körper trug schwer an dem Gewicht des Alters, aber sie hielt sich mit Anmut und starkem Willen aufrecht. In den Armbeugen hielt sie ein weißes Geburtstuch, das man benutzte, um den Säugling aufzufangen. Sie streckte die Hände wie im Gebet aus.

Es war der Augenblick seiner eigenen Geburt im alten Leben.

Er vermied es, sich die nächsten Bilder anzusehen, die auf der Tafel lagen und sich zusammengerollt hatten. Die nächsten Augenblicke hatten großen Schmerz und grausamen Tod gebracht. Obwohl er seine Mutter nie gesehen hatte, hatte er bei seinem Gang ins Leben doch ihre Liebe gespürt, selbst in ihren letzten Augenblicken und bei dieser scheußlichen Geburt. Er hatte die Zeit verändert und vermutlich auch ihr Schicksal, doch er konnte es noch immer nicht ertragen, dem zuzusehen, was wieder mit ihr geschehen war.

Die Spule, auf welcher der Film mit der neuen Geschichte steckte, erregte Meridions Aufmerksamkeit. Sie ruhte geduldig auf ihrer Schwungfeder. Müßig nahm er das Ende in die Hand, spulte es ab und hielt den Film gegen das allgegenwärtige Licht des Observatoriums. Im Gegensatz zu den verblassenden Fetzen der Vergangenheit, die vor seinen Augen schmolzen, war dieser neue Strang klar, rein und lebendig.

Er spulte ihn weiter ab und suchte nach Momenten, die besonders schön waren: das Zusammentreffen von Emily und Gwydion, dem Jungen, den sie Sam genannt hatte, auf einer grünen, sommerlichen Wiese; die Drei, die von der Wurzel in die Luft einer neuen Welt aufstiegen, die sie sonst nie gesehen hätten; der Augenblick, in dem Achmed den Thron und damit auch die Sorge um das Schicksal der Bolg übernahm; das Wiedersehen seiner Eltern; der Sieg über den Dämon; die Wiedererrichtung der neuen Welt. Ja, dachte er, während der glatte Film durch seine Finger glitt, das war es wirklich wert.

Aber was war mit der Vergangenheit? Es musste Respekt vor ihrem Verlust geben. Die Ereignisse in diesem Zeitstrang, die schließlich zum Untergang geführt hatten, waren sicherlich schlimm gewesen, aber auch hier hatte es Momente des Glanzes gegeben sowie Heldentum, Tapferkeit, Selbstlosigkeit, weise und dumme Wahlmöglichkeiten und Liebe. Er betrachtete abermals das Bild Achmeds, wie er der Hochzeit seiner Eltern zuschaute und schief lächelte. Sicherlich war da Liebe gewesen.

Ein unwiderstehlicher Drang überkam ihn. Bevor er Zeit zum Nachdenken hatte, war bereits seine Hand hervorgeschossen, hatte das Fragment des Zeitfilms von der Lampe weggestoßen und es zusammen mit den letzten Resten des alten Lebens, der ersten Geschichte, der neu geschriebenen Vergangenheit vom Boden aufgehoben. Er legte die verschwindenden Schnipsel auf eine Glasplatte. Es war der untere Teil eines Objektträgers, der auf dem Zeit-Editor lag. Meridion nahm eine Flasche mit Fixierlösung von der wirbelnden prismatischen Scheibe, die neben der Maschine in der Luft schwebte. Fieberhaft überschüttete er die Fetzen mit der glimmernden Lösung und sicherte sie auf diese Weise. Er blinzelte rasch, während er sie vorsichtig zwischen den Objektträger und eine Deckplatte presste.

Dann öffnete er eine Schublade im Zeit-Editor, hob den Träger an und schob das Glas langsam in die Tiefen des Schrankes, bevor er die Tür sanft wieder schloss. Er atmete flach und versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.

Ein Gefühl großer Angst, die mit Erleichterung gemischt war, überflutete ihn. Er wusste nicht, welche anderen Momente der neu geschriebenen Vergangenheit er soeben gerettet hatte. Es konnten ebenso schlimme wie gute sein, doch der Impuls war so stark gewesen, dass er ihm nicht hatte widerstehen können. Da er nicht wusste, was nun vor ihm lag, entschied er, dass es richtig gewesen war, dem Drang zu folgen.

Ein Schatten an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Er schaute zu der Stelle, auf die das letzte Bild geworfen worden war, und sah die Schatten, als ob sie in das Glas eingebrannt wären. Die Umrisse der älteren Frau waren nun schwächer. Sie streckte die Hände in milchiges Licht und graue Flecken. Meridion legte die heiße Stirn auf die kühle Oberfläche des Zeit-Editors und versuchte, Mut für den nächsten Schritt zu fassen. Obwohl sein Körper nur aus Gedanken, Überlieferungen und reinem Willen gebildet und sein Bewusstsein nicht den Beschränkungen des menschlichen Fleisches unterworfen war, konnte Meridion den Schmerz unmittelbaren physischen Verlustes, das Stechen in den abgearbeiteten Händen und die Müdigkeit spüren, die solcher Verzweiflung folgte. Er kämpfte darum, nicht von der erstickenden Furcht des Unbekannten verschluckt zu werden.

Die Ereignisse, die ihm das Leben geschenkt hatten, waren unwiderruflich verändert worden. Sie waren zu Fetzen bernsteinfarbenen Films geworden, der nun mit Ausnahme einiger zufälliger Fragmente verschwunden war, die er zusammen mit den Aufzeichnungen über seine Geburt gerettet hatte. Die Schritte, die er zur Veränderung der Zeit unternommen hatte, hatten anscheinend das Ergebnis hervorgebracht, um das er gebetet hatte. Die Welt unter ihm drehte sich noch, segelte ruhig durch den Äther, blau und unversehrt und bedeckt mit wirbelnden Luftströmungen, die über ihre Oberfläche tanzten unwissend, dass je die völlige Vernichtung gedroht hatte. Seine Einmischung in die Vergangenheit hatte funktioniert. Die Katastrophe, die er hatte verhindern wollen, war nicht eingetreten.