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Manchmal sah er in seinen Träumen Blitze, Bruchstücke von etwas, das zu einer anderen Zeit zu gehören schien. Sie waren erfüllt von Bildern seltsamen Lichts und merkwürdiger Dunkelheit sowie von Spulen mit etwas, das wie Fäden aussah und zwischen den Sternen zu schweben schien. In diesen Träumen empfand er immer ein Gefühl des Schreckens und einer Dringlichkeit, der er nicht entkommen konnte. Keuchend und voller Angst wachte er daraus unter der hellen Morgensonne auf, welche die Kälte aus seiner Seele indes nicht zu vertreiben mochte. Er hatte versucht, die seltsamen Vorahnungen seiner Mutter zu erklären, die selbst mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet war, doch sie hatte nie wirklich begriffen, was er ihr mitzuteilen versuchte.

Die Tür des Turmzimmers wurde geöffnet, und sie trat ein. Meridion beobachtete sie aus den Augenwinkeln, als sie ein Tablett auf dem Tisch neben ihm absetzte. Er lächelte sie an, drehte sich dann in seinem Sessel um und betrachtete sie nachdenklich. Seit dem Tag ihrer Hochzeit waren viele Jahre vergangen, und sie sah noch genau so aus wie damals, obwohl in ihrem Gesicht eine Weisheit lag, die in ihrer Jugend noch nicht da gewesen war. Auch sein Vater wirkte noch jugendlich; allerdings hatte ihm die Zeit einige Falten um die Augen eingegraben, die sichtbar wurden, wenn er lächelte.

»Fertig?«, fragte Rhapsody und gab Meridion einen Becher dol mwl. Er nahm den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit dankbar entgegen und nippte an dem bernsteinfarbenen Getränk, das sie beide so mochten. Auch sein Vater trank es gelegentlich, hatte aber nie eine Vorliebe dafür entwickelt. Meridion schluckte es herunter.

»Danke«, sagte er. »Vielen Dank.«

Sie trat hinter ihn und legte ihm die Arme um die Schultern. »Wohin bist du heute gegangen nach vorn oder zurück?«

Meridion dachte an das einzige Bild, an das er sich erinnerte. Es war das verschwommene Bild seiner Eltern, die durch die Sternerhellte Nacht liefen. »Zurück«, sagte er und nahm einen weiteren Schluck. »Ich glaube, ich war auf eurer Hochzeit, aber ich erinnere mich kaum daran. Dein Kleid war wunderschön.«

»Miresylle wäre froh, wenn sie das hören könnte«, sagte seine Mutter und nahm den eigenen Becher auf. »Sie hat zwei Monate hart daran gearbeitet.« Ihre smaragdenen Augen glänzten.

»Hast du auf der Hochzeit auch meine Lehrerin Oelendra gesehen?«

Er dachte kurz nach und durchforstete seine Erinnerungen. »Ja, aber nicht diesmal. Ich habe schon oft eurer Hochzeit zugesehen, weil das Feuerwerk so großartig ist. Ich erinnere mich nicht daran, sie diesmal gesehen zu haben. Und übrigens auch nicht das Feuerwerk.« Er hob den Becher an die Lippen. Er wollte nicht eingestehen, dass er sich an nichts außer dem Bild seiner Eltern erinnerte. Alles andere war gelöscht.

Rhapsody blinzelte und nickte. »Ich wünschte, du hättest sie kennen gelernt, Meridion. Sie war etwas Besonderes.«

Meridion lächelte. »In gewisser Weise kenne ich sie«, sagte er. »Du hast es nicht bemerkt, als du den ersten Tag in Tyrian warst, aber ich war eines der Kinder in ihrer Schwertkämpferklasse.«

Rhapsody lachte und fuhr ihm durch die Haare. Kurz ließ sie die Hand auf seinen drahtigen goldenen Locken ruhen. »Du bist durch die ganze Zeit gereist, nicht wahr? Ich erinnere mich an dich, wie du beim Brunnen in Ostend gesessen und mich gebeten hast, immer wieder dasselbe Lied zu spielen.«

Meridion nickte und trank einen Schluck dol mwl. »Ich war auch auf dem cymrischen Konzil, aber da war ich schon erwachsen.«

»Die Gabe der Zeitreise und die Möglichkeit, nach Belieben in den Zeitstrom einzutauchen und wieder daraus hervorzukommen, ist ein großes Geschenk.«

»Allerdings.« Meridion stellte den Becher auf dem Tablett ab und nahm eine Pastete von dem Teller daneben. »Aber es ist ein wenig enttäuschend, die Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft sehen und sie nicht verändern zu können. Ich habe das seltsame Gefühl, dass mir ein Eingriff möglich sein sollte, aber wenn ich in die Vergangenheit eintrete, bin ich leider nur Beobachter und höchstens einmal Kommentator. Ich musste mich sehr anstrengen, damit du mich hörst, als ich dich gebeten habe, dieses Lied zu spielen.« Er kicherte. »Wahrscheinlich ist es gut, dass ich nicht wirklich dort, sondern nur ein Bild bin. Wenn ich in die Zeit eingreifen könnte, würde ich es bestimmt verpfuschen.«

Rhapsody nahm einen Schluck aus dem dampfenden Becher und sah ihren Sohn ernst an.

»Das würde wohl jeder tun. Die Fähigkeit, in die Zukunft und Vergangenheit zu sehen, ist in deinem Fall ein Familienerbe, aber sie bringt nichts als Ärger. Meine eigenen Visionen haben mir schreckliche Albträume beschert, genau wie bei deiner Urgroßmutter und ihren 985

Schwestern. Diese Familiengabe hat sie die geistige Gesundheit gekostet vor allem bei Manwyn ist das der Fall. Die Gabe, in die Zukunft schauen zu können, ist offenbar sehr gefährlich.« Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes sah. »Worüber denkst du gerade nach, Meridion?«

Er zuckte die Schultern und hob den Becher wieder an die Lippen.

»Weißt du, woher Manwyn ihre Informationen über die Zukunft bekommt?«

Meridion lachte auf. »Nun, einige davon hat sie von mir. Ich schaue manchmal zum Tee bei ihr vorbei, und wir halten ein Schwätzchen. Sie ist schließlich meine Urgroßtante, und niemand sonst besucht sie, ohne etwas von ihr zu wollen. Ich bin für sie mehr als nur ein Bild. Wenn ich bei Manwyn bin, besitze ich so etwas wie körperliche Gegenwart. Manchmal darf ich bei ihr Merithyns Sextant benutzen und in die Zukunft schauen. Wenn man sie einmal kennen gelernt hat, kann sie sehr lustig sein auf ihre verrückte Weise.«

»Wirklich?« Seine Mutter löste einige verfilzte Haarsträhnen auf seinem Kopf. »Das ist seltsam. Du bist ein Benenner, Meridion. Wenn sie ihre Prophezeiungen von dir erhält, warum macht sie dann ein so großes Geheimnis darum? Und warum hat sie so selten Recht, wenn sie sie der Welt mitteilt?«

Sein Lächeln verblasste. Er wandte den Blick ab und sah eine Lerche an einem der Turmfenster vorbeisegeln. Die Sonne spiegelte sich in ihrem Gefieder. »Nun, sie ist etwas taub.«

»Ist das alles?«

Meridion stieß langsam die Luft aus und sah dem Vogel nach, bis er sich in die Höhe aufschwang. »Wer sagt, dass sie nicht Recht hat?«

»Manchmal liegt sie daneben, oder etwa nicht?«

Er schüttelte den Kopf und sah sie nicht an. »Nein. Sie ist verrückt und listig und schwerhörig, aber sie liegt nie daneben.« Endlich erwiderte er Rhapsodys Blick. »Erinnerst du dich daran, was Jo dir bei den Rowans erzählt hat? Dass man das Nachleben erst verstehen kann, wenn man es erlangt hat?«

Rhapsody stellte den Becher ab. »Ja.«

»Das stimmt auch für die Zukunft. Manwyn mag sie sehen, aber das bedeutet nicht, dass sie sie versteht.« Nicht besser als du, dachte er mit einer Spur von Trauer.

»Aber du verstehst sie?«

Er beugte sich zum Fenster und hoffte, den Vogel wieder zu sehen. »Meistens.«

»Hmmm.« Rhapsody folgte seinem Blick nach draußen. Das Licht der Herbstsonne ergoss sich in den Raum. Als sie Meridion wieder ansah, lächelte sie.

»Hast du je herausgefunden, woher deine Gabe stammt? Ich verstehe, warum die drei Seherinnen ihre Fähigkeit erhalten haben. Ihr Vater wurde am Geburtsort der Zeit und ihre Mutter an deren Todesort geboren, und beide stammten von alten Rassen ab. Aber warum du, Meridion?«

Er biss ein Stück von der Pastete ab. »Lecker«, sagte er. Ihre Frage hing schwer in der Luft und blieb unbeantwortet.

Nach einigen Momenten des Schweigens wurde Meridion nervös. Schließlich seufzte er auf.