»Was ist das?«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Andrew.
Die helle Sonne leuchtete am blauen Rand des Horizonts, blitzte einen Augenblick lang auf und spiegelte sich tausendfach im aufwirbelnden Schnee wider. Einen Moment später verdunkelte sich der Horizont mit einem ganzen Heer aus sorboldischen Soldaten, Kavalleristen, Infanteristen mit Lanzen und Armbrustschützen, die über den Hügel am Rande der Wiese galoppierten und marschierten und fünf Wagen mit dampfenden Katapulten hinter sich herzogen.
Der Schnee erbebte unter den donnernden Hufen, flog in den Himmel auf und umhüllte das näher rückende Heer mit Wirbeln aus weißen Schleiern. Die Erde unter dem Bierwagen bebte, und die Pferde tänzelten ängstlich.
»Heiliger All-Gott«, flüsterte Andrew, als die zweite Reihe des Heeres am Horizont auftauchte. Die Absicht der Soldaten und ihr Ziel waren unmissverständlich.
Mit voller Geschwindigkeit rannten sie auf den Festplatz außerhalb von Stephens Schutzmauer zu.
Das Fass Whiskey fiel zu Boden, zerschmetterte und bespritzte das Hinterrad des Bierwagens. Gleichzeitig warfen Andrew und Dunstin einen Blick zurück auf die ferne Festung, in der nur eine Hand voll Soldaten Wache hielten; dann sahen sie wieder auf das herannahende Heer. Eine dritte und eine vierte Reihe tauchten nun auf dem Hügel auf und marschierten in Richtung des Hinterlandes. Stephens Mauer würde sie nicht aufhalten und auch den Anschlag mit den brennenden Fässern, die auf den Armen der Katapulte lagen, nicht abwehren können. Sie würden den Angriff nur verschleiern, bis das gesamte Heer herangekommen wäre. Andrew und Dunstin waren zwischen den Sorboldern und der Festung gefangen und schauten gleichzeitig nach Süden. Vor ihnen erhoben sich in einiger Entfernung die beiden Glockentürme von Haguefort, die hauptsächlich dekorativen Zwecken dienten und mit Bannern behängt waren. Die Türme waren Teil einer größeren Schutzwehr aus den Tagen des cymrischen Krieges gewesen. Mit dem Frieden war die Niederlegung des äußeren Verteidigungswalls und die Umwandlung der Wachttürme in schlanke, frei stehende Türme einher gegangen, deren Glocken die Stunden schlugen und bisweilen Musikstücke spielten. Die Türme standen zwischen ihnen und dem heranrückenden Heer.
Die beiden jungen Adligen wechselten einen raschen Blick und nickten mit einem schwachen, grimmigen Lächeln, dann teilten sie sich auf. Dunstin lief nach links, Andrew nach rechts. Sie schössen über die Durchgangsstraße zu dem braunen Schnee, der von den Füßen, Hufen und Karrenrädern der unzähligen Gäste zertrampelt war, und rannten dem Heer entgegen. Andrew rief dem Fahrer des Bierwagens zu: »Zum Tor! Warne die Wachen!«
Sie waren beide tausend Schritte von ihrem Ziel entfernt, als die Sorbolder sie bemerkten. Die linke Flanke der dritten Kolonne schwenkte ab und griff nun die Festung und die Glockentürme an, während das restliche Heer weiter auf den Festplatz zumarschierte. Dunstin hörte das zischende Pfeifen des Pfeils, bevor er ihm in die Schulter drang und ihn zu Boden schleuderte. Der Aufprall warf ihn nach hinten. Er rappelte sich wieder auf und taumelte vorwärts. Mühsam kämpfte er gegen die Schmerzen und die Panik an, die ihn befiel, als der Boden unter ihm schwankte und sich der Horizont verdunkelte.
Im Laufen packte er sich an die Schulter. Das hervorquellende Blut wärmte ihm die Finger. Der Turm war in Sicht; die alten Steine leuchteten in der Morgensonne unter den flatternden Bannern. Er spürte, wie sein Atem ungleichmäßig wurde und die Schmerzen sich in der ganzen Brust ausbreiteten. Der Atemdunst bildete eisige Wolken, die vor seinem Gesicht schimmerten, als er durch sie hindurchlief.
Die Reiter kamen näher. Dunstin schlug einen Haken nach rechts und rannte im rechten Winkel durch ihr Blickfeld. Im Angesicht des Todes kehrte die Erinnerung an seine Ausbildung zurück. Pfeile aus der näher rückenden Linie zischten durch die Luft. Er stolperte und taumelte voran, fing sich wieder und betete, dass Andrew schneller und sicherer auf den Beinen war und seine eigene Nähe zu den Soldaten ihm mehr Zeit verschaffte. Das war nur ein kleiner Gefallen für das, was er nun bezahlen musste.
In dem schwarzen Sturm, der über den Horizont peitschte, hörte er einen festen, metallischen Laut, als ein Katapult gespannt und bestückt wurde. Er hatte den Glockenturm beinahe erreicht; dennoch fuhr ihm das Geräusch durch Mark und Knochen und machte seine Muskeln starr. Wie angefroren blieb er stehen. Der metallische Laut ertönte wieder gegen das Knirschen von gespanntem Holz.
Eine Welle von Energie durchfloss Dunstin. Er schoss nach vorn, rannte mit aller Kraft und hielt die Augen auf den Turm gerichtet, der mit jedem Schritt und jedem schmerzenden Atemzug größer wurde und näher kam. In der hinteren Wand befand sich eine kleine Tür, zweifellos für den Aufseher. Dunstin hielt den Blick darauf gerichtet, er wollte sie unbedingt erreichen. Er kämpfte sich immer weiter voran und versuchte, weder die Schmerzen in Schulter und Brust noch das Blut zu beachten, das daraus hervorquoll.
Seine Hand lag auf der Klinke, und kalter Stahl stach ihm in Handfläche und Finger, als sich die Welt in Feuer und niederstürzenden Steinblöcken auflöste.
Dunstins schwankendes Bewusstsein spürte den Steinregen, als der Turm zersprang, und bemerkte, wie die öligen Flammen ihm die Haut abschälten und ihn verzehrten. Der Staub von den zusammenfallenden Turmmauern, die bald wie Brotkrumen über das frostige Feld verstreut lagen, erfüllte seine blutende Nase, und als die Dunkelheit am Rande seines verschwommenen Blickfeldes herankam, erinnerte er sich an die Schwärze seiner Kindheitsalbträume und wünschte sich, seine Mutter käme mit einer Kerze herbei. Die Gewalt des Sturzes warf Dunstin auf die Seite. Als der Tod den Adligen heimholte, gewährte er ihm zwei letzte Gnaden.
Durch das Bersten der letzten Mauerreste und das Knistern der Flammen hörte er das wilde Tönen der Glocken aus Andrews Turm; es war der Ruf zu den Waffen, der Stephen warnen würde. Trotz der Schmerzen zog Dunstin die geschwärzten Lippen zurück und lächelte über diesen Laut.
Er war aus der Welt geschieden und schon auf dem Weg ins Licht; daher blieb ihm der Anblick des aus dem Turm fallenden Andrew erspart.
15
Das Läuten der Turmglocken überraschte anfangs nur Stephen. Als das Geläut begann, vermuteten die Zuschauer, die noch immer die Sieger des Schlittenrennens anfeuerten, es handle sich um einen weiteren Teil der Festlichkeiten.
Der Herzog von Navarne hatte das Glockengeläut jedoch selbst geplant und wusste, dass es noch nicht an der Reihe war. Er schaute von seinem Richterstuhl in dem Augenblick auf, in welchem die sorboldische Kolonne den letzten Hügel überschritt, der zur westöstlichen Durchgangsstraße und dem Eingang zur Festung abfiel. Er stand zitternd auf und packte die Armlehnen seines Sessels.
»Guter All-Gott«, wollte er sagen. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er brachte kein Wort heraus.
Stephen sah sich schnell auf dem Festplatz um und schätzte die Lage zwischen zwei Schlägen seines pochenden Herzens ab.
Sein erster Gedanke galt seinen Kindern. Beide waren bei ihm, zusammen mit Gerald Owen und ihrer Gouvernante Rosella.
Die Geistlichkeit sowohl die Seligpreiser von Sepulvarta als auch der filidische Fürbitter und seine Hohepriester saßen zusammen mit ihm und den anderen Herzögen auf einer behelfsmäßigen Erhöhung, die als Wettrichterstand diente und aus senkrecht gestellten hölzernen Pritschen bestand, die mit Seilen zusammengebunden waren. Das Podest befand sich dicht neben dem Osttor der Schutzmauer und schaute nach Osten auf das offene, hügelige Land, das als Kurs für die Schlittenrennen gedient hatte. Die Würdenträger waren recht leicht in Sicherheit zu bringen.
Als Nächstes richtete sich Stephens Blick auf die Festteilnehmer. Es waren sicherlich mehr als zehntausend, die sich in dem weiten Oval versammelt hatten, das sich mehr als eine Meile nach Osten in das Landesinnere von Navarne erstreckte. Der niedere Adel und die Landedelmänner befanden sich dem Richterstand am nächsten. Mit abnehmender sozialer Stellung nahm die Entfernung zu, sodass die Ärmsten am weitesten weg standen. Wie immer waren sie diejenigen, deren Tod am wahrscheinlichsten war.