Der Magen drehte sich ihm um.
Beim nächsten Herzschlag war Stephen bereits von seinem Platz auf der Richtertribüne gesprungen und zog Melisande mit sich.
»Zum Tor!«, rief er den Würdenträgern zu. »Lauft!« Er wirbelte herum, erregte die Aufmerksamkeit seines Hauptmannes und deutete auf die näher rückende Kolonne. »Alarm!«
Er schätzte, dass es etwa hundert berittene Soldaten waren und weitere siebenhundert zu Fuß, mit einigen großen Katapulten im Schlepptau. Als sie näher rückten, schienen sie sich aufzuteilen. Die Reiter strebten zu der Mauer hinter ihm, die Infanterie marschierte nach Osten, auf die Masse der Feiernden zu.
Tristan war an seiner Seite und packte ihn am Ellbogen.
»Sie reiten auf die Mauer zu!«, rief der Regent durch den Lärm der Menge, die immer noch fröhliche Rufe ausstieß. »Sie werden uns den Weg zum Tor abschneiden ...«
»... und alle abschlachten«, beendete Stephen den Satz für ihn. Die Hörner bliesen Alarm, während Stephens Wache dem Ruf des Hauptmanns folgte. Der Herzog wandte sich an den ältlichen Kammerherrn hinter ihm.
»Owen! Bring meine Kinder in Sicherheit!«
Der Kammerherr, der so weiß wie Milch war, nickte und packte dann beide Kinder am Arm, die aus Protest aufschrien.
»Quentin!«, rief Tristan Steward dem Herzog von Bethe Corbair zu. »Nimm Madeleine mit. Los!« Wild deutete er auf das Tor, drehte sich dann um und ergriff den Arm seines Bruders lan, des Seligpreisers von Canderre-Yarim. Er wandte die Augen von dem entsetzten Blick seiner Verlobten ab, als Baldasarre sie über die Seile hinter der Richtertribüne auf das Tor zu zerrte.
Aus der westlich gelegenen Kaserne war Hufdonnern zu hören, als ein Kontingent von Stephens Soldaten Losritt und sowohl die Feiernden als auch die Heuballen auseinander trieb, welche den Rennkurs markiert hatten. Inzwischen hatten die meisten Leute den Aufruhr bemerkt und sahen die schwarze Reihe sorboldischer Soldaten, die den Hügel herabstiegen, in der Ferne durch den Schnee marschierten und unablässig näher kamen. Ein Keuchen zerriss die Luft und wurde von einem misstönenden Chor aus Schreien gefolgt.
Eine gewaltige Welle der Panik fuhr durch die Menge. Wie eine Flut aus Menschenleibern brandeten die Leute nach vorn auf das Tor im Wall zu und eilten in den Schutz von Stephens Festung. Innerhalb weniger Sekunden war der Durchgang verstopft, und Gewalt brach aus. Schreie der Wut und des Schmerzes ertönten, als die Leute gegeneinander und gegen den unnachgiebigen Stein getrieben wurden.
»Herr!«, rief Gerald Owen. »Die Kinder werden dieses Geschiebe der Menge nie überleben!«
Stephen starrte verzweifelt auf die Menschen, die sich durch die einzige Öffnung in der Mauer drückten. Owen hatte Recht. Gwydion und Melisande könnten zu Tode gequetscht werden.
Über sich hörte er gebrüllte Befehle und das Schlagen von Türen in den Wachttürmen auf der Mauer, während die Bogenschützen ihre Positionen einnahmen. Als ein breitschultriger junger Mann seine Pfeile herrichtete, kam Stephen eine Idee.
»He, du!«, rief er dem Bogenschützen auf der Mauer zu. »Mach dich bereit!« Er ergriff die Seile von der Richtertribüne, riss sie von den Pfosten ab und trug sie zur Mauer in einiger Entfernung von dem Tor. »Owen! Komm mit mir!«
Stephen blieb vor der Mauer stehen und warf die Seile mit aller Kraft hoch. Still dankte er dem All-Gott dafür, dass er sie vor einigen Monaten vom König der Firbolg gekauft hatte. Die 188
Bolg hatten eine Methode entdeckt, mit der man Seile um ein Vielfaches leichter machen und gleichzeitig ihre Reißfestigkeit erhöhen konnte. Ein gewöhnliches Seil wäre so schwer gewesen, dass man es niemals auf diese Weise in die Luft hätte werfen können. Nach zwei Versuchen fing der Bogenschütze auf dem Wehrgang das durchgescheuerte Ende und zeigte mit einem Handzeichen den Erfolg an. Hinter sich hörte Stephen die Soldaten vorbeireiten, die den Angriff abwehren wollten.
»Rosella, halt Melisande fest«, sagte Stephen zu der verängstigten Dienerin. »Lass sie keinesfalls los.« Rosella nickte stumm, während Stephen ihr das Seilende zweimal um die Hüfte wand. »In Ordnung, mein Mädchen, jetzt geht es aufwärts.« Er nickte dem Bogenschützen zu und drehte Rosella in Richtung der Wand. Grob packte er ihr Hinterteil und half ihr beim Aufstieg inmitten des absplitternden Gesteins und zerreißender Kleidung. Er versuchte, Melisande ermutigend zuzulächeln, doch das Kind jammerte vor Entsetzen.
»In Ordnung, Sohn, du bist der Nächste«, sagte er zu Gwydion. Der Knabe nickte und packte das Seil, sobald es von der Mauer heruntergeworfen wurde, die zweimal so hoch wie er selbst war.
»Ich kann klettern, Vater.«
Stephen band das Seil um die Hüfte des Jungen, während Gwydion es mit beiden Händen ergriff. »Das weiß ich. Halt dich jetzt gut fest.«
Der Bogenschütze zog, während Gwydion die Mauer hochstieg. Erleichtert seufzte Stephen auf, als die langen Beine des Jungen hinter der Brustwehr verschwanden. Dann wandte er sich an Gerald Owen.
»Du bist der Nächste, Owen.«
Der alte Kammerherr schüttelte den Kopf.
»Mein Herr, ich sollte hier bleiben, bis Ihr ebenfalls in Sicherheit seid.«
»Ich gehe nicht nach drinnen, nicht bis die Sache hier beendet ist.« Stephen erhob die Stimme, damit man ihn durch den schrecklichen Lärm hindurch hören konnte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tristan seine Bemerkung verstanden hatte. »Bring meine Kinder fort von der Mauer und zieh so viele hoch wie möglich, du da oben!«, rief er dem Bogenschützen am Seil zu.
»Ja, Herr.«
»Bleib auf diesem Posten. Ein Bogenschütze weniger macht nichts aus. Die Feinde sind sowieso noch nicht in Reichweite. Zieh so viele Leute in Sicherheit wie möglich.« Er streckte die Hand aus und packte einen stämmigen Bauern, der mit seinen Kindern auf das Tor zueilte.
»Hier, Mann, gib die Kinder nach oben und hilf dabei, andere hochzuziehen Frauen, Alte, jeden, der beim Übersteigen der Mauer Hilfe braucht.«
»Ja, Herr.«
»Nach drinnen, Owen. Versuch die Leute zu besänftigen. Halte alle im Innern von der Mauer fern. Die Sorbolder haben Katapulte.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die entschlossen vorrückende Kolonne und wandte sich dann wieder an Gerald Owen.
»Sag dem Mauermeister, er soll den Leuten Feuerschutz mit den Bögen geben und auf die Sorbolder schießen, sobald sie in Reichweite sind. Und suche die Kommandanten der dritten und vierten Division. Sag ihnen, sie sollen sich auf einen Angriff aus Westen vorbereiten und das Nordtor halten.«
Der Kammerherr nickte verständnisvoll, packte dann das Seil und wurde über die Brustwehr gezogen, fort von dem Kampf, der unter ihm nun blutig wurde.
Tristan brüllte dem Kommandanten seines persönlichen Gefolges Befehle zu.
»Treibt so viele Leute wie möglich um die Mauer nach Norden. Dort gibt es ein weiteres Tor. Es ist von hier aus nicht zu sehen.«
Ein Schock durchfuhr ihn, als er von hinten einen Schlag erhielt. Einige Leute, die angesichts der heranstürmenden Reiter in Panik von dem Feld flüchteten, waren gegen ihn gerannt. Tristan, ein starker, breitschultriger Mann, behielt das Gleichgewicht und trat einer weiteren Welle von Dorfbewohnern aus dem Weg. Ihre Gesichter glichen Masken des Grauens, und die Augen waren glasig vor Schrecken. Aus der Ferne hörte er, wie Madeleine mit schriller Stimme seinen Namen rief.
»Stellt zwei Fronten auf«, rief er seinem Kommandanten zu. Er wies auf die herannahende Kolonne, die im Osten auf die Festbesucher zumarschierte. »Stellt einen Zaun aus Pikenieren und Fußsoldaten sowie allen Bauern auf, die ihr finden könnt. Gebt ihnen alles Mögliche Stecken, Heugabeln, Ballenhaken und errichtet eine Linie vor den Armbrustschützen gegen den Angriff der Infanterie. Stephens Kavallerie kann sich um die Reiter kümmern, die auf die Mauer zuhalten, bis sie in Reichweite der Bogenschützen auf der Brustwehr kommen.« Um ihn herum schwoll das Chaos an. Er hielt nach seinem Vetter Ausschau, als der Kommandant vor ihm salutierte und seine Befehle ausgab.