Bei der Mauer stellte Stephen einen weiteren Bogenschützen auf der Brustwehr dazu ab, jene Leute, die sich in der Nähe des Bollwerks aufhielten, über die Brüstung in Sicherheit zu ziehen. Dann trat der Herzog von Navarne von der Mauer zurück, beschirmte kurz die Augen und rief den Soldaten auf dem Wehrgang etwas zu. Einer von ihnen verschwand und kehrte kurze Zeit später mit einer Hand voll Waffen zurück, die er über die Mauer warf. Stephen nahm die Klingen aus dem Schnee und verteilte sie rasch an die Männer und Frauen in der Warteschlange. Dann lief er zu Tristan hinüber und warf ihm ein Langschwert zu.
»Jetzt werden wir erfahren, ob uns Oelendras Ausbildung noch von Nutzen ist, Vetter«, sagte er ruhig, obwohl es in seinen Augen glitzerte. Tristan nickte und wandte sich der angreifenden Kolonne zu.
Unter donnerndem Gebrüll kam eine zweite Welle von Kavalleristen aus den nördlichen Kasernen in Sicht und vereinigte sich mit dem hinteren Ende der ersten Welle aus den östlichen Quartieren. Die beiden berittenen Linien galoppierten auf die sorboldischen Reiter zu, während Stephens Fußsoldaten sich mit klappernden Rüstungen und klirrenden Waffen der herannahenden Infanterie entgegenstellte. Verstreut standen Männer und Frauen mit allem, was als Waffe dienen konnte, herum und beobachteten entsetzt das An und Abschwellen der Menge, die sich durch das östliche Tor zu quetschen versuchte. Sie waren die letzte verzweifelte Verteidigungslinie zwischen den Einwohnern und der Mauer.
»Ich stelle mich dem Kampf«, rief Tristan Stephen zu. »Du bringst die Leute in Schwung. Es gibt noch hunderte, die dazu in der Lage sind, die Mauer zu verteidigen.«
Stephen nickte, und die beiden Adligen trennten sich. Tristan rannte nach vorn der feindlichen Kolonne entgegen und Stephen auf die behelfsmäßige Tribüne zu, auf der er noch vor wenigen Minuten gesessen hatte.
»Ihr«, rief der Herzog einer Gruppe stämmiger Männer zu. Wahrscheinlich waren es Teilnehmer an dem Schlittenrennen gewesen; jetzt drückten sie sich an der Mauer herum, hatten Äxte und Spaten in der Hand und bereiteten sich auf den kommenden Angriff vor.
»Nehmt diese Tribüne auseinander! Werft ihnen Hindernisse in den Weg. Errichtet Barrikaden!«
Wie unter einem zerschmetternden Zauberspruch fiel die Benommenheit von ihnen ab, die sie gefangen genommen hatte. Mit schwellendem Gebrüll bemächtigten sich die Männer der behelfsmäßigen Tribüne und schlugen sie entzwei. Sie zerteilten das Geländer mit Äxten, Fässern, bloßen Fäusten was immer sich in ihrer Reichweite befand. Bald war die große Plattform in Einzelteile gehackt, welche die Leute am Rande der Mauer und in den Feldern aufschichteten, damit sie den Angreifern unmittelbar im Weg standen.
Die wahllos verstreuten Teile dienten auch als Schutz vor dem Pfeilregen, der jetzt von dem sorboldischen Heer ausging. Die Luft wurde vom Pfeifen der Geschosse zerrissen, die in Wellen heranflogen. Ein krank machendes Stakkato aus dumpfen und knallenden Lauten ertönte, gefolgt von Schmerzensschreien und erschüttertem Keuchen, als die Körper der Festbesucher fielen und die einst so makellose Rennstrecke befleckten.
»Haltet eure Position!«, rief Tristan zu der doppelten Reihe von Fußsoldaten aus Stephens nördlichen Kasernen, die Pikeniere vorn und die Bogenschützen hinten. »Richtet die Bogen auf die Frontlinie und wartet, bis sie das Feld erreicht haben. Pikeniere haltet die Waffen nach unten! Haltet diese Linie gegen den Angriff!« Er sah fort. Der Blick in die Gesichter der zwangsverpflichteten Bauern drehte ihm den Magen um. Nun erkannten sie, welchem Unheil sie gegenüberstanden.
Stephen spürte, wie der Wind kälter wurde; er stach ihm in Wangen und Augen und wirbelte einen Schleier aus schneidenden Schneekristallen hoch. Er sah in Richtung der beiden Tore in seinem Schutzwall. Die Menge kämpfte immer noch um Einlass, doch sie dünnte sich aus, denn die Soldaten, die Tristan abkommandiert hatte, errichteten eine brüchige Ordnung innerhalb der Menschen. Kinder rannten entsetzt umher und folgten Erwachsenen, die blind um die Mauer auf das nördliche Tor zuliefen. Schneewehen umschwirrten sie und warfen einige zu Boden.
Er drehte sich um und sah auf das heranrückende Heer. Wie ein sanft fließender Strom näherten sich die sorboldischen Soldaten unbarmherzig und ohne Eile. Eines der Katapulte kam an einer unmöglichen Stelle zum Stillstand und wurde auf die zerstreute Menge von Verteidigern gerichtet, welche die Mauer schützten. Stephen runzelte die Stirn. Dann schnürte es ihm die Kehle zu, als er erkannte, dass der Feind nicht die Festung angreifen, sondern so viele Verteidiger wie möglich töten wollte.
Hinter ihm wurde der Wind schärfer und bedrängender. Stephen beschirmte die Augen und wandte sich ab. Der Ausdruck der Besorgnis auf seinem Gesicht zerschmolz zu Erstaunen. Llauron, der Fürbitter, stand in der Mitte des Feldes, das die Schlittenbahn gewesen war, auf einem kleinen Schneehaufen, auf dem der Zeitnehmer gestanden und das Rennen gestartet hatte. Er war allein; nur Gavin, sein Oberwaldhüter, hatte sich neben ihm auf ein Knie niedergelassen. Das heranrückende Heer befand sich noch nicht im Schussfeld seines schweren Bogens, mit dem er als einziger Wächter Llauron verteidigen wollte.
Der Fürbitter schien den Aufruhr um ihn herum nicht wahr zunehmen. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, beinahe heiter; er hielt die Arme gesenkt und den weißen Eichenstab zum Zeichen seines Amtes in der Hand. Llauron hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der Nachmittagssonne zugewandt, die bald in der langen Dunkelheit der Nacht untertauchen würde.
Llauron hob die leere Hand. Stephen schaute nach oben. Der Wind wurde noch stärker, kreischte mit einem jammernden Geheul über das weite Feld und warf Schleier aus gefrorenen Kristallen in die wirbelnde Luft. Der Herzog schloss die Augen vor dem Ansturm der Kälte, die ihm in das Gesicht stach.
Er legte die Hand an die Stirn und sah hinüber zu Tristan. Der Herr von Roland hatte den Fürbitter nicht bemerkt; er kämpfte um einen sicheren Stand und positionierte seine Soldaten gegen die heranrückende Kolonne.
Das Tageslicht verblasste rasch. Dunkle Wolken bildeten sich vor der Sonne; das trübe Licht des Nachmittags ging ein in das Grau der Dämmerung, während ganz plötzlich Schneefall einsetzte und dick die Luft durchzog. Der Schnee fiel und stieg in verzerrten Mustern auf dem klagenden Wind.
Der Fürbitter hob die andere Hand und hielt seinen Stab hoch. Das goldene Blatt an der Spitze des weißen Holzes leuchtete wie ein Signalfeuer in der anbrandenden Dunkelheit. Stephen glaubte zu hören, wie Llauron eine Beschwörung sang, doch sie wurde von dem Klagen übertönt, das in seinen Ohren kreischte. Er sah wieder zu Tristan hinüber, der nun aufrecht dastand und unmittelbar vor sich starrte. Stephen rannte zu seinem Vetter und zog die Kapuze über den Kopf, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen.
»Was ist los?«, rief er.
Der Herr von Roland sagte nichts. Stephen folgte seinem Blick und sah, wie die Reiter der Mauer von Navarne näher kamen.
Neben den galoppierenden Rössern türmte sich der Schnee bedrohlich, und der Wind heulte wild und schrill. Aus den weißen, treibenden Wolken drang ein abgehackter, rumpeln der Laut und hallte in tausend ohrenbetäubenden Schüssen über das Feld.
Der Schnee selbst erhob sich und nahm Form an. Die Männer aus Roland sahen erstaunt zu, wie er mit Klauen nach den Läufen der Pferde griff, wie eine Schnauze zuschnappte und brüllte.
Erst einer, dann ein Dutzend, dann hundert von ihnen flüchtige Wölfe, so weiß wie der Winter, schienen sich aus dem Schnee selbst zu bilden und nach den Beinen der nun stark verängstigten Pferde zu fassen. Der Wind stieß ein wildes Jammern aus. Einer der sorboldischen Soldaten zerrte an den Zügeln seines Pferdes, das sich vor Entsetzen aufbäumte.
Ein zerschmetternder Luftstoß durchwirbelte erneut die Eiskristalle. Mit ihm erstanden neue Wolfsgestalten, zügellos, wütend, schnappend, an den sorboldischen Angreifern zerrend. Das eisige weiße Laken, das die Wiese eingehüllt hatte, zerwirbelte in tausend weitere wilde Wölfe, welche die Pferde und die Fußsoldaten mit einem schrecklichen Chor aus Knurren und Heulen angriffen, der dem des Windes gleichkam. Ein kontrapunktischer Angstschrei stieg von dem entsetzten Heer auf und schwebte misstönend im Wind.