Der Mauermeister trat an Stephens Seite, stand still neben ihm und starrte genau wie der Herzog auf das Feld jenseits des Schutzwalls.
Nach einem Augenblick fand Stephen die Sprache wieder. Seine Kehle war trocken und zugeschnürt; daher klang sie in seinen Ohren jung und ängstlich. Er hustete und setzte erneut an.
»Befiehl der Hälfte deiner Männer, so viele Versprengte wie möglich zu retten. Die Piken sollen gesenkt werden. Holt sie einfach nur ins Innere der Festung.«
»Warum fliehen sie nicht?«, wunderte sich der Mauermeister laut. »Sie marschieren geradewegs in den Pfeilregen hinein.«
Stephen zitterte und kämpfte grausige Erinnerungen nieder. »Ich fürchte, sie werden damit fortfahren, bis auch der Letzte gestorben ist. Sag deinen Schützen, sie sollen auf die Katapulte zielen und dort so viele abschießen wie möglich. Ich werde dem Kommandanten des dritten Regiments befehlen, eine Truppe auszusenden, die sie gefangen nimmt. Befiehl den Bogenschützen in der Zwischenzeit, nicht zu töten, sondern nur zu verletzen. Wir müssen einige der Sorbolder lebend in die Hände bekommen, damit wir den Grund für diesen Albtraum erfahren.« Der Mauermeister nickte und verschwand dann aus Stephens Blickfeld. Der Herzog betrachtete weiterhin das scheußliche Gemetzel und den Ort, wo noch vor kurzem das Sonnenwendfest stattgefunden hatte. Die hellen Banner flatterten zerrissen im heftigen, Qualmgeschwängerten Wind; die glitzernden Maibaumbänder drehten sich weiterhin in der Brise. Sie waren schwarz vor Ruß.
Er wusste schon, was die Sorbolder sagen würden.
Warum?
Keine Ahnung, Herr. Ich kann mich nicht erinnern.
16
Die Bibliothek von Haguefort war gewaltig; ihre hohen Decken warfen das geringste Geräusch zurück. Schritte hallten auf dem Marmorfußboden wider und wurden bisweilen von den Seidenteppichen geschluckt. Sogar ein leises Räuspern hätte man aus allen Ecken des Raumes vernommen.
Trotz dieser Hellhörigkeit war außer dem Knistern des Feuers und dem Ticken der Uhr kein Laut zu vernehmen.
Cedric Canderre ließ sich schwer auf eines der Ledersofas neben dem Kamin sinken und starrte mit leerem Blick in die Flammen. Sein Gesicht wirkte um Jahrzehnte älter als noch am Morgen. Neben ihm saß Quentin Baldasarre, der Herzog von Bethe Corbair, Dunstins Bruder. Sein Schweigen war ganz anders; seine Augen glühten in einem Feuer, das kaum den Zorn im Zaum zu halten vermochte, und selbst sein leiser Atem war mit Wut geschwängert. Lanacan Orlando, der Seligpreiser seiner Provinz, saß neben ihm im Schaukelstuhl und drückte ihm die Hand in dem Versuch, ihn zu trösten. Dabei wurde Orlando immer nervöser. Er schien beinahe erleichtert zu sein, als Quentin ihn mit einer wütenden Handbewegung fortschickte. Ihrman Karsrick, der Herzog von Yarim, goss sich ein weiteres Glas Branntwein ein und stellte dabei fest, dass Stephens Karaffe dringend nachgefüllt werden musste. Von allen Herzögen Rolands hatte er allein keinen Verlust eines Verwandten oder engen Bekannten zu beklagen, obgleich es sich bei dem Oberhaupt der siegreichen Schlittenmannschaft, das bei dem Angriff ums Leben gekommen war, um ein beliebtes Gildenmitglied in seiner Provinz sowie seinen persönlichen Schmied gehandelt hatte.
Den heiligen Männern war es Karsricks Meinung nach nicht gelungen, Trost zu spenden. Colin Abernathy hatte das Weinen für kaum länger als ein paar Augenblicke eingestellt. Lanacan Orlando, der gemeinhin als großer Heiler und Quelle des Trostes galt, verärgerte offensichtlich seinen Herzog weitaus mehr, als er ihm beistand. Philabet Griswold, der aufgeblasene Segner von Avonderre-Navarne, hatte zunächst über Sorbold und die Notwendigkeit einer sofortigen Vergeltung schwadroniert, war aber von Stephen Navarne, einem Mitglied seines eigenen Sprengeis, mit einem Blick zum Schweigen gebracht worden. Stephen war inzwischen nicht mehr anwesend; er besuchte seine Kinder und die behelfsmäßigen Krankenzimmer, die in seinen Gemächern eingerichtet worden waren, um die Verwundeten zu versorgen. Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, saß allein in einer Ecke; seine sonst so dunkle Haut war fahl und feucht. Nur Ian Steward schien die Ruhe zu bewahren.
Die Tür zur Bibliothek wurde geöffnet, und Tristan Steward trat ein. Leise schloss er sie wieder. Er hatte sich damit entschuldigt, nach Madeleine und den Verwundeten aus seiner Provinz sehen zu wollen, und hatte sich danach im Hof mit den Hauptmännern seines Regiments getroffen. Sein Gesicht war eine Maske der Ruhe, als er eintrat, aber Karsrick erkannte am Ausdruck der Augen, dass er etwas plante und den rechten Moment für seine Enthüllungen abwartete.
Martin Ivenstrand, der Herzog von Avonderre, stand auf, als Tristan an ihm vorbeiging.
»Die Verluste, Tristan wie schlimm sind sie?«
»Über vierhundert Tote, zweimal so viele verwundet«, sagte Tristan, als er vor einem hölzernen Pult stehen blieb, auf dem Stephens kostbarer Atlas von Serendair lag. Das uralte Manuskript befand sich unter einer Glaskuppel, welche die brüchigen Seiten, auf denen die seit langem untergegangene Insel dargestellt war, vor den Verheerungen der Zeit schützte.
Wie ironisch, dachte Tristan geistesabwesend. Eine sorgfältig geschützte Karte einer Welt, die schon vor tausend Jahren gestorben ist. Wegweiser ins Nichts.
»Heiliger All-Gott«, murmelte Nielash Mousa, der Segner von Sorbold.
»Ist das ein Segen oder eine Bitte um Vergebung?«, giftete Philabot Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne.
Karsricks Augen richteten sich zusammen mit allen anderen im Raum auf die beiden heiligen Männer, die hinter der Bühne erbitterte Feinde und Rivalen um das einzige Recht waren, den Weisheitsring des Patriarchen, seine weiße Robe und den sternförmigen Talisman zu tragen. Als die Nachricht aus Sepulvarta drang, dass die letzten Tage des Patriarchen gekommen waren, hatte sich die Feindschaft der beiden Männer bis zur Weißglut erhitzt. Während der ganzen Festlichkeiten hatten sie einander angegiftet und verhöhnt und sich mit verschiedenen Adligen gezeigt, sich heimlich getroffen und verstohlen miteinander geredet.
In Karsricks Augen war all dieses Gehabe reine Zeitverschwendung gewesen. Der Patriarch konnte seinen Nachfolger selbst bestimmen und seinen Ring an einen Seligpreiser seiner Wahl weitergeben, auch wenn eine solche Erklärung wohl nicht bevorstand. Wenn er das nicht tat, würde die große Waage von Jierna Tal, dem Ort der Gewichtung, entscheiden, wo der alte Ring der Weisheit auf die eine Waagschale gelegt wurde, während der zu richtende Mann auf der anderen Schale saß. Wie dem auch sei, die Anstrengungen der beiden heiligen Männer, an die Macht zu gelangen, waren völlig sinnlos.
Auf dem Fest hatte Griswold scheinbar die Oberhand gewonnen. Er war bei weitem der mächtigste Seligpreiser in Roland, was noch dadurch unterstrichen wurde, dass der Karneval in seinem eigenen geistlichen Herrschaftsgebiet stattfand. Eingeweihte aus dem Hof des Patriarchen verbreiteten jedoch das Gerücht, dass Mousa, der einzige nichtcymrische Seligpreiser und Segner eines ganzen Landes, die bevorzugte Wahl des Patriarchen war. Falls sich die Nachfolge tatsächlich an der Waage entscheiden sollte, würde es sicherlich nicht gegen Mousa sprechen, dass Jierna Tal in Sorbold lag.
In welcher Gunst Mousa vor dem Fest gestanden haben und welches Vergnügen er aus diesem Gerücht gezogen haben sollte, nun war alles verloren. Obwohl niemand das Schweigen in der Bibliothek aus Rücksicht auf den Kummer von Cedric Canderre und Quentin Baldasarre gebrochen hatte, war es aufgrund des schon beinahe sichtbaren Frostes in der Luft nur allzu deutlich, wem die Geistlichen und Adligen Rolands die Schuld an dem Angriff gaben. Der Segner von Sorbold, ein sonst unerschütterlicher Mann mit dunkler Haut und sanften Zügen, war grau geworden. Das Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und mit Schweißperlen bedeckt.