Als Griswold auf ihn zukam, stand er langsam auf.
»Das ... das war eine unerklärliche Tat«, sagte er und stützte sich mit der Hand auf dem Tisch vor ihm ab, um das Gleichgewicht zu wahren. »Sorbold das heißt, die Krone weiß nichts davon, dessen bin ich mir sicher.« Er betastete nervös das heilige Amulett an seinem Hals, das wie die Welt geformt war.
Griswold verschränkte die Arme über der Brust, wobei das Amulett, das er trug und das die Gestalt eines Wassertropfens hatte, deutlich klirrte. »Man sollte doch wohl davon ausgehen können, dass eine Kriegshandlung, an der eine gesamte Kolonne königlicher Soldaten beteiligt ist, wenigstens unter stillschweigender Erlaubnis des Prinzen oder der Königin durchgeführt wird«, sagte er überheblich. »Was insbesondere für eine Handlung gilt, die Friedensverträge verletzt und Scheußlichkeiten an den Einwohnern eines benachbarten Landes begeht einer früher einmal verbündeten Nation.« Er blieb vor seinem Widersacher stehen. Der Segner von Sorbold richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und wandte sich an die anderen.
»Ich kann euch versichern, dass dieser schändliche Angriff nicht von der Regierung Sorbolds gebilligt war«, erklärte Mousa mit einer Stimme, die nichts von der Angst verriet, die auf seinen Zügen lag. »Ich will ausdrücklich hervorheben, dass Sorbold keinerlei Feindschaften mit Roland oder einem anderen seiner Nachbarn wünscht. Selbst wenn es so wäre: Der Kronprinz hält am Krankenbett seiner Mutter, Ihrer Durchlaucht, der Königinwitwe, Wache und hätte niemals diesen Zeitpunkt für einen Angriff gewählt.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, höhnte Griswold.
»Ich bin hier, bei aller Liebe des All-Gottes!«, brummte Mousa. »Glaubst du, sie würden das Leben ihres einzigen Seligpreisers auf diese Weise gefährden?«
»Vielleicht will dir der Kronprinz damit etwas sagen«, meinte Griswold.
Mousas dunkles Gesicht wurde rot vor Zorn. »Möge die Ceere dich schlucken, Griswold! Wenn du nicht an meinen Wert in meinem Lande glaubst, will ich dir wenigstens versichern, dass wir in Roland mit einer hundertfach größeren Streitmacht einmarschiert wären, wenn wir es hätten angreifen wollen! Du Narr! Unser eigenes Volk befand sich hier auf dem Fest! Du hast sämtliche Anschläge auf die Einwohner von Tyrian und andere orlandische Provinzen durch dein eigenes Volk stets als ›zufällig‹ oder ›unerklärlich‹ abgetan. Du hast nie Verantwortung für all diese Gewalttaten übernommen! Kannst du nicht begreifen, dass das hier genau dieselbe Situation ist?«
»Das ist sie nicht«, sagte Stephen Navarne ruhig. Die anderen drehten sich um und sahen, dass der Herr von Haguefort in der offenen Tür stand. Er war so leise eingetreten, dass niemand ihn kommen gehört hatte.
Der Herzog von Navarne durchquerte de» weitläufigen Raum und blieb unmittelbar vor Nielash Mousa stehen, der bei diesen Worten wieder blass geworden war. Stephen legte die Hand unbeholfen auf den Oberarm des Seligpreisers und stellte fest, dass dieser zitterte.
»Es ist nicht dasselbe, weil es bisher noch keine Raubzüge von Sorbold aus gegeben hat. Das ist der erste, von dem ich weiß. Die Tatsache, dass der Wahnsinn, der die anderen Angriffe verursacht hat, jetzt auch auf Sorbold übergegriffen hat, ist höchst beunruhigend, aber nicht gänzlich unerwartet. Bisher hatten sich die Überfälle auf Tyrian und Roland beschränkt.«
»Und auf Ylorc«, sagte Tristan Steward mit fester Stimme.
»Ich habe dir letzten Sommer gesagt, dass die Bolg meine Untertanen angegriffen haben, aber du hast dich nicht darum gekümmert.«
»König Achmed hat es verneint«, meinte Quentin Baldasarre.
In Tristans Augen glühte es. Er griff in seinen Stiefel, zog ein kleines Wurfmesser mit drei Klingen hervor und warf es Baldasarre vor die Füße. Es schlug laut klappernd auf dem Steinboden auf.
»Er hat auch verneint, Waffen an Sorbold zu verkaufen. Hier kannst du sehen, wie viel sein Wort wert ist.« Der Herr von Roland sah Baldasarre kalt an. »Für dieses wertlose Wort musste dein Bruder sein Leben lassen.«
Baldasarre sprang von dem Ledersofa auf und hatte den Raum schon halb durchquert, als die letzten Worte aus Tristans Mund kamen. Seine Muskeln zuckten vor Wut. Lanacan Orlando war es gelungen, den Arm des Herzogs zu packen. Der Seligpreiser wurde von ihm mitgeschleift und stellte sich nun zwischen Tristan und Quentin.
»Bitte«, flüsterte der Seligpreiser. »Nicht noch mehr Gewalt, bitte. Entehre in deiner Wut nicht das Andenken deines Bruders, mein Sohn.«
»Er ist in der Wärme des Nachlebens und hat uns alle gerettet«, sagte Ian Steward.
»Dunstin Baldasarre ist einen Heldentod gestorben«, psalmodierte Philafoet Griswold.
»Wie Andrew Canderre«, fügte Ian Steward rasch hinzu.
Cedric Canderre wollte gerade etwas dazu sagen, doch seine Worte wurden von dem Knarren der Doppeltüren erstickt, die sich nun öffneten und Llauron, dem Fürbitter der Filiden, Einlass gewährten. Die Generäle des Fürbitters hatten Stephens Heer unterstützt, und Khaddyr hatte sich zusammen mit den Heilern von Navarne um die Verwundeten gekümmert, während Gavin den Spähtrupp anführte, der den sorboldischen Angriff untersuchte. Llauron nickte Stephen zu, ging dann still zum Schrank neben Ihrman Karsrick und goss sich einen Finger breit vom Branntwein ein. Nun war die Karaffe leer.
Als Cedric Canderre seine Stimme wiedergefunden hatte, war sie fest und widersprach dem Schmerz in seinen Augen.
»Ich will nicht mehr darüber reden«, sagte er nur. »Madeleine und ich müssen in mein Land zurückkehren, um Andrews Beerdigung vorzubereiten und Jecelyn zu trösten.« Er räusperte sich und warf einen scharfen Blick auf die anderen Herzöge; dann sah er Ian Steward an, den Seligpreiser von Canderre-Yarim. »Sie braucht jetzt viel Unterstützung und Trost, Euer Gnaden. Sie erwartet im Herbst Andrews Kind.«
Eine schwere Stille setzte ein und legte sich über die Bibliothek, als die heiligen Männer und Regenten einander ansahen. Schließlich sagte Tristan Steward: »Hab keine Angst, Cedric. Madeleine und ich werden uns um das Kind und seine Erziehung kümmern, als wäre es Andrews richtiger Erbe.«
Canderres Kopf schnellte zurück, als wäre er geschlagen worden. Stephen Navarne spürte, wie er in Wut über Tristans Worte unbewusst die Fäuste geballt hatte. Der Herr von Roland hatte Andrews Kind soeben als Bastard bezeichnet. Diese Andeutung war niemandem der Anwesenden entgangen. Nach dem Recht der Thronfolge wäre Madeleine und bis zu ihrer Hochzeit Tristan der Erbe von Canderre, nicht aber Andrews ungeborenes Kind.
Quentin Baldasarre, Andrews Vetter, war bereits wütend auf Tristan. Er trat vor, doch Lanacan Orlando, sein Seligpreiser, ergriff seinen Arm.
»Das Kind ist Andrews rechtmäßiger Erbe, mein Sohn«, sagte Orlando ruhig zu Tristan. Nun schwankte seine Stimme nicht mehr. Er wandte sich an die Geistlichen und die Provinzführer.
»Ich habe die geheime Hochzeit von Andrew und Jecelyn im letzten Sommer durchgeführt. Ihre Vereinigung wurde gesegnet; das Ritual der Einswerdung ist vollzogen. Daher ist jedes Kind aus ihrer Verbindung legitim und Erbe von Canderre.« Der Feuerschein glitzerte auf seiner Halskette, die den Wind symbolisierte und daher keinen Talisman trug.
Stephen warf Llauron einen raschen Blick zu, doch der Fürbitter zeigte keine Anzeichen von Überraschung oder auch nur Neugier. Er sog den Duft des Branntweins ein und nahm einen kleinen Schluck. Zu Stephen hatte Andrew nichts von seiner Hochzeit gesagt. Tristan schien entsetzt zu sein, während sein Bruder Ian, der für gewöhnlich sehr gelassen war, rot anlief. Die Spirale aus roten Juwelen im sonnenförmigen Talisman um seinen Hals blitzte ebenso wütend im Feuerschein auf.