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Aber warum?

Die Hand hatte ihm grob auf die Schulter geklopft und ihn dann losgelassen. Weil sie eine Cymrerin war wie wir. Die Zeit hält uns alle fest, Gwydion. Khaddyr ist ein mitleidsvoller Mann und ein großer Heiler, aber er hat die tödliche Wunde in Talthea nicht erkannt, die im Lauf der Jahrhunderte geeitert hat, denn er ist kein Cymrer. Wie alle sterblichen Menschen, die den Launen der Zeit unterworfen sind, kämpft er darum, den Tod so lange wie möglich hinauszuschieben, denn er kennt nicht den Segen, der zuweilen mit dem Sterben verbunden ist. Komm jetzt, es ist an der Zeit, dass wir zu unserem Unterricht zurückkehren. Für dich und mich läuft die Zeit weiter.

Ashe schüttelte die Erinnerung ab. Sie hatte ihn stärker heimgesucht als erwartet, mit einer Klarheit, die über eine gewöhnliche Erinnerung hinausging; es waren schon beinahe berührbare Bilder gewesen. Der Geruch des Scheiterhaufens, die Hand seines Vaters auf der Schulter, der Geschmack bitterer Galle im Mund, als er Taltheas Sterben beiwohnte all die Gefühle, die ein Teil dieser Erfahrung gewesen waren, kehrten nun zu ihm zurück. Er blinzelte, um die Augen von den kindischen Tränen zu befreien, die in ihm hochgestiegen waren wie vor einem Jahrhundert.

Er erinnerte sich nicht bloß an dieses Ereignis. Er durchlebte es wieder.

Eine Welle aus Hitze nahm ihren Ausgang in seiner Hand, schoss den Unterarm hoch und führte dazu, dass sich die Muskeln leicht zusammenzogen, während die Kraft den Weg in sein Gehirn nahm. Jeder kleinste Nerv in seinen Fingern zuckte, als der Ring des Patriarchen summte und ihm die Weisheit vergangener Zeitalter mitteilte. Ashe verstärkte den Druck seiner Beine gegen die Flanken des Wallachs und umarmte sich selbst, als er die Welle aus Erleuchtung von dem uralten Artefakt empfing.

Als würde er von einer anschwellenden Meereswoge umtost und eingehüllt, legte sich das Wissen um ihn und durchdrang sein Bewusstsein. Silberne Funken erhellten die Luft vor Ashes Augen und beleuchteten einen glitzernden Pfad zwischen seinem Geist und Dorndreher, der in schmerzerfülltem Halbbewusstsein vor ihm lag. Sein Geist dehnte sich aus, und er begriff zumindest teilweise, was der Ring ihm sagen wollte.

Die tiefe Klarheit der Erinnerung war in irgendeiner Weise mit dem Mann vor ihm auf dem Sattel verbunden.

Ashe sah hinunter in Dorndrehers Gesicht und bemerkte, wie er unter den Stößen und Sprüngen des unebenen Waldweges zusammenzuckte. In seinen Augen schien auch Angst zu flackern; er wirkte wie ein Mann, der noch nicht durch das Tor des Lebens schreiten wollte. Mehr brauchte Ashe nicht, um ihn noch stärker anzutreiben, nach seinem Onkel zu suchen, einem Mann, den er in seinem Leben nur selten und seit seinem Beinahe-Tod gar nicht mehr gesehen hatte.

Die Zeit hält uns alle fest, Gwydion.

Seine Gedanken verweilten bei Dorndreher, während er den Blick wieder auf die Straße richtete. Mag sie dich noch ein wenig festhalten, Dorndreher, dachte er.

Bei Sonnenuntergang frischte der Wind auf. Beißende Kälte durchdrang die Laken, in die er den Bewusstlosen eingewickelt hatte. Ashe spürte das kommende Zittern, noch bevor es bei Dorndreher einsetzte. Gegen seinen Willen musste er schließlich eingestehen, dass Dorndreher Wärme und Ruhe brauchte, die er nicht bekommen konnte. Es bestand die Gefahr, dass er starb.

Er verlangsamte den Wallach zu einem Trott und hielt ihn schließlich sanft an. Er stieg ab, hob den Körper des alten Cymrers vom Sattel und erlaubte dem Tier, Fortzugehen und sich zu strecken. Eine Laube aus großen Mondrianbüschen bildete einen guten Schutz gegen den Wind; von allen Frucht tragenden Gewächsen in den Wäldern des Westens widerstanden sie allein den Flammen des Feuers, das er nun entfachen musste. Ashe setzte Dorndreher auf einer kleinen Schneewehe ab, nachdem er einige Laken untergelegt hatte, und sammelte Brennholz.

Als das Feuer brannte, starrte er in die Flammen, als hätten sie ihn bezaubert. Sie spendeten der eisstarren Dunkelheit eine Wärme und ein Licht, das ihn schmerzlich an Rhapsody erinnerte. Sie war nie ganz aus seinen Gedanken verschwunden, doch nun, allein mit dem bewusstlosen Cymrer und dem heulenden Wind im Schutz der Brombeerhecke, kam sie im Feuerglanz wieder zu ihm. Sie lächelte, wie sie es im Licht der Lagerfeuer getan hatte, als sie erstmals zusammen über Land gezogen waren. In den einsamsten Zeiten kehrten seine Gedanken stets zu ihrer Reise und der Suche nach der Drachin Elynsynos zurück. Er hatte sich immer mehr in die Sängerin verliebt, als sie gemeinsam durch ein Land gereist waren, das in seiner Erinnerung gerade zum süßesten Frühling erwachte.

Ashe schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerungen zu vertreiben. Wenn er sich erlaubte, länger als einen Augenblick an sie zu denken, so würde die Leere zurückkehren und ihn in den Tiefen des kahlen Winters heimsuchen. Das Wissen schmerzte, dass sie sich zu seiner Frau gemacht hatte, als ihre Erinnerung noch ihr selbst gehört hatte. Sie hatte ihm die Doppelzüngigkeit vergeben, die er sich selbst nicht vergeben konnte.

Jetzt gehörten ihre Erinnerungen ihr nicht mehr allein. Durch seine eigenen Handlungen hatte er sie verloren. Daran zu denken und dabei geistig gesund zu bleiben war mehr, als er ertragen konnte.

Dorndreher jammerte im Schlaf und riss Ashe aus seinen qualvollen Gedanken. Er entkorkte den Wasserschlauch, hielt ihn an die Lippen des Verwundeten und stützte ihm den Kopf, als er mit schwachen Schlucken trank. Als er den Schlauch wieder verschloss, spürte er ein fernes Prickeln auf der Haut, ein unendlich feines Summen, das sich zugleich fremd und vertraut anfühlte.

Er hatte im Wind den Geschmack und den Atem von Anborn aufgefangen.

Der einstige Marschall der Cymrer war noch meilenweit entfernt, aber schon so nah, dass die Drachensinne ihn spürten. Er hatte ein Schwingungsmuster, das schwer von Macht und Bedrohung war. Ashe stieß seufzend die Luft aus; sein Atem bildete flüchtige Wolken aus treibendem Dampf, der kurz in Dunkelheit und Feuerschein schwamm und dann mit dem Wind verschwand.

»Halte noch ein wenig durch, Großvater«, sagte er sanft zu Dorndreher, wobei er den cymrischen Namen der Hochachtung gebrauchte, mit dem man vor langer Zeit in Serendair die älteren Leute angeredet hatte. »Vor Sonnenaufgang wirst du wieder bei deinen Gefährten und deinem Kommandanten sein.«

Der scharfe Geruch brennenden Holzes erfüllte Ashes Nase, als der letzte Lichtfleck den Himmel verließ. Jeder anderen Nase wäre es unmöglich gewesen, in einer Entfernung von vielen Meilen etwas zu riechen, doch die Drachensinne waren so scharf, dass sie sogar unmerkliche Änderungen im Wind oder in der Erde spürten; daher schloss er die Augen und folgte dem Geruch bis zu dessen Ursprung.

Durch die Erde fühlte er die Quelle der Wärme, die den scharfen Geruch hervorgebracht hatte: kleine, aber helle Flammen, die unruhig im Winterwind brannten. Fackeln, dachte er. Tief in diesen Wäldern musste ein kleiner Weiler oder ein Dorf liegen. Dort würde er Anborn zweifellos finden.

Der Cymrer regte sich, als hätte er Ashes Gedanken gelesen. Dorndrehers Körper erbebte, als er aufwachte. Ashe klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, während der Mann die Augen aufschlug, die mit Blut aus seinen Verletzungen gesprenkelt waren. Die Pupillen glänzten schwarz im Feuerschein.

»Ruh dich aus, Großvater«, sagte er auf Alt-Cymrisch. Dorndreher öffnete die blutigen Augen weiter.

»Wer bist du?«, keuchte er.

»Im Augenblick dein Beschützer«, erwiderte Ashe und schaute hinter sich auf die dunklen Vorhänge aus Schnee, die durch den beißenden Wind trieben. »Deine Eskorte. Du hast mich darum gebeten, zu Anborn gebracht zu werden. Wir sind nicht weit von ihm entfernt, glaube ich.«

Dorndreher blinzelte rasch, als wollte er den fallenden Schnee von den Augenlidern schütteln.

»Wer bist du?«, wiederholte er schwach.

»Ist das von Bedeutung?«

Der alte Cymrer kämpfte sich unter seinen Decken in eine sitzende Lage, dann gelang es ihm, sich ohne Hilfe gegen den verfaulten Stamm eines umgestürzten Baumes aufzurichten. »Ja, das ist es«, murmelte er gereizt. »Nicht für mich, aber für Anborn. Und für dich, wenn du von mir eine Belohnung haben möchtest.«