Dorndreher wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt; dann richtete er die verletzten Augen wieder auf Ashe. »Mit dir kann ich dasselbe tun. Willst du immer noch warten, bis du mich zu Anborn gebracht hast?«
»Wenn du mir den letzten Anblick Serendairs zeigen kannst, wäre das für mich das Schönste«, sagte Ashe. »Aber ich will deine Gesundheit nicht für eine solche Vision aufs Spiel setzen.«
»Dein letzter Augenblick, du Dummkopf«, brummte Dorndreher. »Etwas, das du verloren hast, das du gesehen hast und niemand je wieder sehen wird. Gibt es einen solchen Augenblick in deiner Erinnerung?«
Ashe richtete sich im Feuerschein auf. Für einige Zeit herrschte Schweigen in dem verborgenen Waldlager, das nur ab und zu von Dorndrehers schwerem Atmen und Husten unterbrochen wurde. Als Ashe wieder sprach, klang seine Stimme sehr sanft.
»Ja«, sagte er langsam. »Ich glaube, da gibt es etwas.«
Dorndreher nickte und deutete dann schwach auf das niedergebrannte Feuer. »Bring mich näher heran, mein Knabe.«
Ashe stand auf und setzte den Wasserschlauch auf dem gefrorenen Boden ab. Er griff mit den Armen sanft unter Dorndrehers Schultern und zog ihn vorsichtig näher an die brennenden Kohlen heran. Dorndreher brummte zustimmend, als er nahe genug war. Ashe ging zurück zu dem Holzstück, auf dem er gesessen hatte, und beobachtete von dort aus den alten Mann eingehend.
Unter großer Anstrengung hob der alte Cymrer sein zerbeultes Schwert und hielt es so, dass sich der Feuerschein in der Klinge widerspiegelte.
»Sieh in das Feuer, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.«
Rasch streckte Ashe die Hand aus. »Warte, Großvater. Wenn du mir etwas im Feuer zeigen willst, lass es sein. Ich verzichte auf die Vision.«
»Warum?«
Ashe lachte verbittert auf. »Es sollte reichen, wenn ich dir sage, dass ich diesem Element nicht traue. Ich will nicht, dass meine Erinnerungen für seine Bewohner sichtbar werden.«
Dorndreher hustete heftig und erschauerte. »Ich kann dir die Vergangenheit nicht zeigen, ohne sie in einer der Fünf Gaben zu spiegeln in den uranfänglichen Elementen. In ihrer Kraft allein kann etwas so Flüchtiges wie ... alte Erinnerung einen Moment lang festgehalten werden. Wir sind nicht in der Nähe des Meeres; der Schnee verbirgt die Sterne, und die Erde ... schläft jetzt. Das Feuer ist das einzige Element, das uns nun zur Verfügung steht.«
»Wie wäre es mit einem Teich? Könntest du es mir in seinem Wasserspiegel zeigen?«
Dorndreher schüttelte den Kopf. »Ja, aber jetzt ist Winter. Alle Teiche sind zugefroren; es würde ein verschwommenes Bild nur noch stärker verzerren.«
Ashe stand auf und zog sein Schwert. Kirsdarke glitt aus der Scheide; das Elementarwasser seiner Klinge kräuselte sich wie die Wellen des Meeres. In dem blauen Licht, das die kleine Lichtung nun durchströmte, wurden Dorndrehers Augen groß.
»Kirsdarke«, flüsterte er. »Kein Wunder, dass du allein überleben und allem entgehen konntest, was dich die ganze Zeit über gejagt hat.«
»In der Tat.« Mit einem sanften Strich beschrieb Ashe einen Kreis in das verbrannte, gefrorene Gras des Feuerrings. Die Flammen erloschen sofort, während Wolken wogenden Rauchs aufstiegen und sich in der feuchten, schweren Luft verteilten, bis sie mit dem weiten, dünnen Nebel verschmolzen, der dicht über dem Boden hing. Wo das Feuer gewesen war, lag nun ein kleiner Teich aus klarem Wasser, tief und vollkommen glatt.
»Genügt das?«
Dorndreher nickte und sah weiterhin dem Dunst nach, der vom Wind ergriffen und mit dem fallenden Schnee vermischt wurde. Er drehte sich um und schaute den frisch erschaffenen Teich an.
»Sehr gut, also wollen wir es noch einmal versuchen. Sieh in das Wasser, Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’ Anwynan o Manosse.«
Ashe steckte das Wasserschwert sanft zurück in die Scheide und löschte damit das Licht auf der Lichtung. Er beugte sich über den Teich und starrte in dessen Dunkelheit. Schneeflocken fielen federleicht auf die Oberfläche.
Lange erkannte er nichts außer der alles umgreifenden Schwärze des Wassers, das den dunklen Himmel widerspiegelte. Er schüttelte den Kopf und wollte gerade zu Dorndreher zurückschauen, als eine flackernde Bewegung im Teich seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah, dass das, was zuvor noch der weiße Mantel aus fallendem Schnee gewesen war, nun das Spiegelbild des Mondlichtes war, verschwommen und undeutlich in der Hitze eines lange vergangenen Sommers. Sein Strahlen vereinigte sich in dem flachsfarbenen Haar einer jungen Frau, beinahe noch ein Kind, die auf einem sommerlichen Hügel in der süßen Düsternis einer Sommernacht neben ihm gesessen hatte. Die flackernde Bewegung war das Zwinkern ihres Auges gewesen, weit geöffnet vor Verwunderung, erstrahlend in einem Licht, das heller als der Mond war. Sie lächelte ihn in der Dunkelheit an, und Ashe fühlte nun, wie seine Knie schwach wurden, wie sie es auch damals, vor so langer Zeit, geworden waren.
Sam?
Ja?, murmelte er nun, genau wie damals. Sein heller Bariton klang in seinen Ohren viel jünger, erfüllt von ängstlicher Erregung, am Rande des Brechens.
Glaubst du, dass wir das Meer sehen werden? Irgendwann einmal?
Er erinnerte sich daran, wie er gefühlt hatte, dass er ihr alles versprechen wollte, worum sie ihn bat. Natürlich. Wir könnten, wenn es dir gefällt, auch am Meer leben. Hast du es noch nie gesehen?
Ich bin noch nie hier herausgekommen, Sam, kein einziges Mal. Aber ich habe mich schon immer nach dem Meer gesehnt. Mein Großvater ist Seefahrer, und er hat mir versprochen, dass er mich irgendwann einmal auf eine große Fahrt mitnimmt. Bis vor kurzem habe ich mir auch Hoffnung darauf gemacht. Ich habe schon einmal sein Schiff gesehen.
Wie ist das möglich, wenn du noch nie am Meer warst?
Sie hatte so weise ausgesehen, so empfindsam, als sie ihn bei dieser Frage angelächelt hatte. Es war der Abend ihres vierzehnten Geburtstages gewesen. Nun, es ist in Wahrheit sehr klein ungefähr so groß wie meine Hand , jedenfalls da, wo es jetzt liegt: in einer Flasche auf dem Kaminsims.
Ashe würgte an dem Knoten, der sich in seinem Hals gebildet hatte, und kämpfte das Stechen an den Augenrändern nieder. Damals war Rhapsody so wunderschön gewesen. Ihr Gesicht hatte noch nicht die Ehrfurcht einflößende Großartigkeit gezeigt, die sie nun mit einer Kapuze bedeckte, sondern nur die einfache, frische Unschuld des lebhaften jungen Mädchens, das sie zu jener Zeit gewesen war eines Mädchens, das ihre Familie Emily genannt hatte. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie bei Tageslicht zu sehen. Wann immer das Schicksal ihn in der Zeit zurückgeworfen hatte, war ihm nur eine Nacht mit ihr vergönnt gewesen, eine gesegnete Nacht im hügeligen Bauernland von Serendair, wo sie geboren worden war mehr als dreizehn Jahrhunderte vor seiner eigenen Geburt.
Der Augenblick, den Dorndreher ihm gezeigt hatte, war der Augenblick gewesen, in dem er erkannt hatte, wer sie wirklich war und warum die Zeit sie so verändert hatte. Sie war die andere Hälfte seiner Seele, geboren vor vielen Lebensspannen und in einer entfernten Welt, aber begabt mit einer Magie, die so stark war, dass sie Zeit und Ferne trotzte und sie dennoch zusammenbrachte.
Ashes Magen drehte sich heftig um, als er die Ironie spürte. Sie hatten diese wenigen Augenblicke miteinander verbracht, nur um dann durch Ereignisse und Abläufe von scheußlichen Ausmaßen getrennt zu werden. Das Schicksal, das eher grausam als freundlich war, hatte sie ein zweites Mal zusammengeführt, und sie hatten sich wieder ineinander verliebt, nur um erneut getrennt zu werden.
Diesmal aber war derjenige, der ihnen die Möglichkeit des Beisammenseins geraubt hatte, Ashe selbst gewesen.
Die Schmerzen wurden unerträglich. Ashe atmete schwer. Das Bild in dem neu geschaffenen Teich verblasste. Er flüsterte noch einmal das, was er zu ihr gesagt hatte, als die Vision in dem reflektierten Mondlicht verschwamm und schließlich verschwand.
»Du bist die wunderbarste Frau der Welt.«
Die einzige Antwort war das Heulen des Winterwindes. Ashe sah auf, die Augen rot vor ungeweinten Tränen.
Dorndreher lag unter der Lagerdecke in der Dunkelheit und atmete flach. Ashes Drachensinne warnten ihn sofort, dass es mit dem alten Mann eine schlechte Wendung genommen hatte und er um sein Leben kämpfte. Ashe stand rasch auf und zog das Laken enger um Dorndreher, dann hob er ihn vom Boden auf und trug ihn zum Pferd.
»Keine Angst, Großvater, wir sind schon fast bei Anborn«, sagte er, während er hinter Dorndrehers zusammengesacktem Körper aufsaß. »Lehne dich gegen mich und ruh dich aus. Wir sind bald da, und dann wirst du deinen Trost finden.«
Dorndreher konnte nur noch nicken und brach dann unter einem heftigen Hustenanfall zusammen. Ashe trieb den Wallach voran und folgte den Schwingungen, die er aus der Ferne von Anborn empfangen hatte.
»Vielen Dank, dass du mir das gezeigt hast«, sagte er leise.
Dorndreher hörte ihn nicht mehr.