Im Licht des Kamins beobachtete Ashe seinen Onkel; es war immer bemerkenswert, die Dinge wahrzunehmen, die seinen Drachensinnen entgangen waren oder die sie nicht erkennen konnten.
Anborns Gesicht hatte sich nicht wesentlich verändert, seit Ashe ihn das letzte Mal gesehen hatte; es lag mindestens zwanzig Jahre zurück.
Es war das Gesicht eines Mannes von mittlerem Alter, obwohl sein muskulöser Körper eher zu einem Mann in den späten Jugendjahren gepasst hätte. Haare und Bart, schwarz wie die Nacht, hatten einige Silbersträhnen mehr, als Ashe in Erinnerung geblieben waren. Er trug dasselbe schwarze Kettenhemd wie immer; die dunklen Ringe waren mit Bändern aus gleißendem Silber verflochten. Wundervolle Stahlepauletten hielten für gewöhnlich seinen schweren schwarzen Umhang. Ashe wusste, dass dieser Umhang sich nun oben befand, sorgfältig um Dorndrehers Körper gewickelt, und ihn wärmte. Die azurblauen Augen des Generals glühten wild in einem ansonsten gleichgültigen Gesicht. Er starrte in das Feuer.
»Ich habe ihn sterbend am Rand der Krevensfelder gefunden«, sagte Ashe. Er näherte sich dem Tisch, an dem die Männer saßen, und stellte den leeren Krug ab. »Er ist zusammen mit seinem Gefolge in einen Hinterhalt sorboldischer Soldaten geraten.«
Die Männer sahen auf; seine Worte hatten sie verwirrt. Sie tauschten einen raschen Blick aus, doch Anborn nickte bloß; seine Aufmerksamkeit war noch immer auf das Feuer gerichtet.
»Warum hast du ihn nicht nach Sepulvarta oder Bethe Corbair gebracht, damit er dort geheilt wird?«, fragte einer von Anborns Männern. »Du hast sein Leben aufs Spiel gesetzt, indem du mit ihm in diesem schlimmen Zustand weiter gereist bist.«
»Er hat darum gebeten, zu euch gebracht zu werden. Er hat eindrücklich darauf bestanden.«
Anborn nickte wieder. »Ich schulde dir große Dankbarkeit. Falls du etwas über mich weißt, dann ist dir bekannt, dass dies für dich ein wertvolles Gut ist.«
»In der Tat.«
»Wenn du einmal meine Dankbarkeit in Anspruch nehmen musst, erinnere meine Männer daran, dass du Dorndreher gerettet hast; dann werden sie dir sofort helfen.« Der Krieger erhob sich von seinem Stuhl, aber Ashe bewegte sich nicht. Anborn stand einige Zeit schweigend da, doch schließlich verdunkelte Ungeduld sein Gesicht.
»Geh, Mann. Ich muss mich um einen Verwundeten kümmern.«
»Sehr wohl.« Ashe holte seine Handschuhe vom Kamingitter, ging zur Tür und öffnete sie.
»Vielleicht willst du meinen Namen erfahren?«
Anborns Augen, die so klar wie der azurne Himmel waren, wurden plötzlich dunkel. Zum ersten Mal richtete er seinen starren Blick auf Ashe. Nach einem kurzen Moment gab er seiner Gefolgschaft ein Zeichen. »Verlasst uns«, sagte er zu den Männern am Tisch, ohne den Blick von Ashe zu wenden. »Kümmert euch um Dorndreher.« Eilig stiegen die Soldaten die Treppe hoch und verschwanden in dem Zimmer am oberen Ende; der Letzte schloss die Tür geräuschvoll hinter sich.
Als die Männer fort waren, erlaubte Anborn seinem Blick, über den Nebelvorhang zu wandern, der Ashe vor gewöhnlichen Augen verbarg.
»Schließ die Tür«, befahl er. Ashe gehorchte. »Ich verabscheue Geistesspiele und die Männer, die sie spielen«, murmelte der General dunkel. »Ich habe angenommen, du wolltest deine Identität verbergen, und habe dir die Achtung erweisen wollen, dir dies zu erlauben. Es kommt selten vor, dass jemand mit mir spielt, und überdies ist es sehr unklug. Wer bist du?«
»Dein Neffe.«
Anborn schnaubte. »Ich habe keinen.«
Ashe lächelte unter seiner Kapuze. »Mein Name ist Gwydion ap Llauron ap Gwylliam tuatha d’Anwynan o Manosse«, sagte er geduldig. »Aber du kannst mich auch ›Nutzloser‹ nennen, so wie du es früher zu tun pflegtest.«
Anborns Schwert lag in seiner Hand; die Bewegung, mit der er es gezogen hatte, war für Ashe unsichtbar gewesen, obwohl der Drache in seinem Blut sie gespürt hatte und dem Bogen elektrischer Funken folgen konnte, die noch in der Luft hingen.
»Enthülle dich.«
Vorsichtig nahm Ashe den Rand seiner Kapuze in die Hand. Er zog sie langsam zurück und sah zu, wie sein leuchtendes Kupferhaar den Feuerschein einfing und in Anborns sich weitende Augen warf. Beinahe genauso schnell verengten sich die azurnen Augen wieder, doch sie hielten das gleißende Licht gefangen. Er steckte das Schwert nicht zurück in die Scheide.
Ashe fühlte das Gewicht von Anborns Blick, der prüfend über sein Gesicht glitt; er spürte denselben Drachensinn, der auch in seinem eigenen Blut floss winzige Nadelstiche aus Energie dort, wo Anborns innerstes Wesen Veränderungen in der Gestalt seines Neffen wahrnahm. Am längsten dauerte die Untersuchung der Augen, die Reptilienpupillen erhalten hatten, nachdem ihn sein Onkel zum letzten Mal gesehen hatte. Er stand so still wie möglich und wartete darauf, dass Anborn fertig wurde. Er versuchte, nicht weiter auf die Panik zu achten, die sein eigener Drachensinn bei diesem Eindringen empfand. Schließlich hob der alte cymrische Krieger an zu sprechen.
»Dein Vater behauptet seit zwanzig Jahren, du seiest tot«, sagte er in drohendem Tonfall.
»Das Trauergewand meiner Frau für deine Beerdigung war überzogen mit einer königlichen Auswahl von Perlen, um das tragische Dahinscheiden des Thronerben zu ehren. Die Kosten dieses verfluchten Dings haben mich beinahe ruiniert.«
»Das tut mir Leid.«
»Wie traurig unangemessen. Doch das sollte mich nicht überraschen. Du bist schließlich ein Nachkomme Llaurons. Was hat dich so verwandelt?«
Ashe schüttelte die Kränkung ab. »Das ist nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist nur, dass ich hier bin, und obwohl ich mich entschlossen habe, nicht zu wagemutig zu sein, werde ich mich nicht mehr verstecken. Weder vor Menschen noch vor Dämonen.«
»Selbstsicher wie immer. Ich glaube, nicht einmal der nahe Tod kann einen sorglosen Narren ändern.« Schließlich steckte Anborn das Schwert zurück in die Scheide. Er ging wieder zum Tisch, nahm einen der Krüge und leerte ihn, dann sah er noch einmal Ashe an. Er füllte den Krug erneut.
»An deiner Stelle wäre ich etwas vorsichtiger, Gwydion. Deine neu erworbene Weisheit wird dich zu einem noch schmackhafteren Ziel machen, als du es bisher warst.«
»Es macht mich auch zu einem gefährlicheren.«
Anborn lachte harsch und nahm einen weiteren Schluck, sagte aber nichts. Ashe stand still da und wartete darauf, dass sein Onkel weiterredete. Schließlich deutete Anborn auf die Tür.
»Was hält dich noch hier? Geh.«
Ashe war verblüfft, zeigte dies aber nicht. Er beobachtete, wie Anborns Blick durchdringender wurde, während er sich das Bier grob mit dem Unterarm von den Lippen wischte. Die Luft im Raum wurde wärmer, trockener und erhielt eine Unterströmung von Bedrohung.
»Wolltest du sonst noch etwas?«, fragte Anborn.
»Ich hatte gehofft, wir könnten die alten Feindseligkeiten beiseite schieben und miteinander reden.«
»Warum?« Anborn stellte den leeren Krug hart auf dem Tisch ab. »Ich habe dir nichts zu sagen, du Welpe meines einstigen Bruders. Warum sollte ich noch weitere Zeit mit einem sinnlosen Gespräch verbringen, wenn mein Abendessen kalt wird, mein Soldat meine Hilfe braucht und dort oben eine Bettgespielin auf meine Aufmerksamkeiten wartet?«
Ashe ergriff die Türklinke. »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Er zog die Kapuze wieder über.
Anborn kniff die Augenbrauen zusammen, als sein Neffe die Tür öffnete. Er griff rasch in seine Tasche und zerrte einen kleinen Leinensack hervor, den er Ashe vor die Füße warf.
»Da. Das sollte genug Bezahlung für deine Mühen sein.«
Ashe trat das Säckchen zurück zu ihm. Die Luft im Raum war so aufgeladen, dass sie beinahe knisterte.
»Behalte es. Dein Angebot enttäuscht mich.«
Anborn lachte drohend. »Nicht genug? Ich hatte vergessen, dass du den Inhalt des Säckchens bis auf die letzte Münze kennst, weil es dir deine inneren Sinne sagen. Nenne also deinen Preis, damit ich dich loswerde.«