Ashe bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten, obwohl der spottende Tonfall den Drachen in ihm entflammt hatte und sein Zorn hinter den Augen pochte. »Du kannst mich loswerden, indem du mich bloß bittest zu gehen. Das sind nicht gerade die warmherzigen Familienbande, auf die ich gehofft hatte, aber ich will gehen, wenn es das ist, was du wünschst, Onkel.«
»Was hast du erwartet, Gwydion ein Rasenfest zu deinen Ehren? Du und dein verfluchter Vater habt mich seit so vielen Jahren belogen.« Der General leerte den nächsten Krug.
»Es war notwendig.«
»Das mag sein. Weiterer Kontakt mit dir ist es aber nicht. Um die Wahrheit zu sagen, Neffe, hege ich dir gegenüber keine Feindschaft, aber ich habe auch nur wenig Trauer über deinen Verlust gespürt. Deine Rückkehr mag deinen Verbündeten, Navarne und dem Haus deiner Mutter in Manosse Freude bereiten, aber mir bedeutet sie nichts. Kaum etwas könnte mich weniger kümmern als dein weiteres Schicksal. Ich stehe in deiner Schuld, weil du meinen Soldaten zurückgebracht hast. Wenn du mich um einen Gefallen bitten willst, werde ich ihn dir erfüllen. Doch darüber hinaus habe ich kein Verlangen nach deiner Gesellschaft. Mach dich also auf den Weg.«
Ashe zog sich die Kapuze über. »Wie du willst, Onkel«, sagte er nur. »Du hattest es verdient, die Wahrheit über mich zu hören, und nun kennst du sie. Auf Wiedersehen.« Er zog die Tür weit auf und verschwand in dem Schneedurchzogenen Nebel.
Anborn wartete, bis er das Hufgeklapper von Ashes Pferd nicht mehr hören konnte, dann nahm er einen weiteren tiefen Zug aus dem Krug. Er sah schweigend zu, wie das Feuer herunterbrannte und in ohnmächtiger Wut zischte und knisterte. Dann erhob er sich langsam, wischte sich das Bier von den Lippen und ging über die wackelige Treppe in den oberen Raum.
Im blassen Licht einer rostigen Laterne standen seine Männer um die Strohmatratze und kümmerten sich still um seinen Waffenbruder und Freund. Dorndreher schlug die verletzten Augen auf, als sich Anborn an das Fußende des Bettes stellte, und schaute rasch von einem Mann zum anderen, bis sein Blick auf dem General zur Ruhe kam. Er zuckte vor Schmerzen zusammen, als er sich an seine Gefährten wandte.
»Lasst uns allein«, sagte Dorndreher; seine Stimme war nicht mehr als ein abgerissenes Flüstern.
Die Soldaten schauten Anborn fragend an, er nickte schweigend. Rasch sammelten sie die Schüssel und die blutigen Stoffteile ein, die als Verbände gedient hatten, und verließen still das Zimmer.
Der General nahm ein sauberes Stück Stoff und legte es in das Wasser der Schale auf dem Boden. Er hockte sich neben Dorndrehers Bett und wischte ihm sanft das getrocknete Blut aus den Augen. Dorndreher drehte sich um und richtete den brechenden Blick auf den Kommandanten.
»Danke den Göttern, dass ich lange genug leben durfte, um dich wiederzusehen«, sagte er stockend.
»Das werde ich tun«, erwiderte Anborn und lächelte schwach.
»Hol... den ... Säbel.«
»Später«, sagte Anborn. »Ruh dich jetzt aus.«
»Verdammtes Später!«, zürnte Dorndreher. »Vielleicht kommt es nie. Es könnte das letzte Mal sein, dass ich es dir zeige, Anborn. Möchtest du diese Gelegenheit verstreichen lassen?«
Anborn schwieg, während er dem Verwundeten das kühle Stück Stoff auf das graue Gesicht legte.
»Nein«, gab er schließlich zu; Zögern lag in seiner Stimme.
»Dann hol ihn.«
Anborn stand mühsam auf und ging in die Ecke, in die man Dorndrehers Sachen hastig geworfen hatte. Er suchte darin herum, fand den zerbeulten Säbel und hielt ihn kurz in der Hand, bevor er ihn an das Bett trug.
»Das kann warten, bis du stärker bist«, sagte er zu Dorndreher, der erneut finster dreinblickte.
»Möge dich die Leere holen. Sieh in die Laterne.«
Anborn streckte eine Hand aus, die deutlich zitterte, und hob die angelaufene Laterne vom Nachttisch. Er hielt sie vor seine Augen.
Dorndreher sah zu, wie diese azurnen Augen, das Zeichen des cymrischen Königshauses, aufleuchteten. Er lehnte sich gegen das Strohkissen, schloss die Augen und atmete abgehackt.
21
Seit den ältesten Tagen, in den dunkelsten Ecken der Firbolg-Geschichte, hatte es Finder gegeben.
Die Bolg von Canrif besaßen keine schriftlich festgehaltenen Legenden, keine dauerhaft aufgezeichneten Traditionen; sie waren eine Rasse von Analphabeten, zumindest bis Achmed, der selbst nur zur Hälfte von ihnen abstammte, wie durch Magie von der anderen Seite der Welt zu ihnen gekommen war und den Berg beinahe auf das eigene Verlangen des Volkes in Besitz genommen hatte.
Den Berg zu unterwerfen war in der Tat ein einfaches Unternehmen gewesen. Einer der ersten Orte, welchen die Drei in der verlassenen Ruine gefunden hatten, dem früheren Herrschaftssitz Gwylliams, war die königliche Bibliothek gewesen, das Herz von Canrif. Sie enthielt eine gewaltige Sammlung von Landkarten, Plänen und Manuskripten; einige stammten von der untergegangenen Insel Serendair, und alle waren sorgfältig katalogisiert, steckten in runden Schutzbehältern aus Marmor oder altem Elfenbein und lagerten unter dem wachsamen Blick eines gewaltigen Freskos an der gewölbten Decke, das einen rotgoldenen Drachen darstellte, dessen versilberte Krallen in einer stummen Drohgebärde ausgestreckt waren.
In der Bibliothek lagen auch die Eingänge zu den tiefer gelegenen Schatzgrüften und Reliquienschreinen, in denen Gegenstände aufbewahrt wurden, die für den schon lange toten König von großem Wert gewesen waren. Dort hatte sich sogar sein Leichnam befunden. Sie hatten Gwylliams mumifizierten Körper auf dem Rücken liegend inmitten der verfaulenden Staatsroben entdeckt; seine verdorrte Brust war grausam aufgerissen gewesen. Seine schlichte Krone aus reinstem Gold hatte achtlos neben ihm gelegen und davon gezeugt, wie der Mächtige gefallen war.
Am wichtigsten für die Eroberung Ylorcs waren Achmed aber die Maschinen gewesen, die der cymrische König gebaut hatte, um Bewegungen innerhalb des Labyrinths aufzuspüren, sowie die Reihe von Hör und Sprechröhren, die teils sichtbar, teils unsichtbar durch den gesamten Berg liefen, zum größten Teil noch funktionierten und allesamt sehr nützlich waren. Es war kaum mehr nötig gewesen, als diese Erfindungen ein wenig zu verändern und das Ventilationssystem wieder in Gang zu setzen, das frische Luft und Wärme nach Canrif brachte, um die gegenwärtigen Bewohner davon zu überzeugen, dass sie auf ihrem eigenen Boden aus dem Felde geschlagen waren.
Die Bolg hatten sich mehr oder weniger fügsam ihrem neuen Kriegsherrn ergeben, der die Bergstädte der »Willums«, wie sie die Cymrer nannten, zu ihrer früheren Pracht zurückführen konnte, diesmal unter der Hand eines Anführers, der wenigstens ein halber Firbolg war. Sie wussten nichts von seiner anderen Seite, seiner dhrakischen Natur, die vor allem danach trachtete, die Dämonengeister des F’dor zu finden. Sie waren aus der großen Gruft des Lebendigen Gesteins entkommen, die die Drachen errichtet hatten, um sie dort in der VorZeit einzusperren. Es war ein Bluteid, der weitaus älter war als jeder, den er den Firbolg als ihr neuer König geschworen hatte, doch das wussten sie nicht.
Als Achmeds Herrschaft über Ylorc begonnen hatte, hatte Rhapsody darauf bestanden, die Bolg andere Dinge als nur die Kriegskunst zu lehren, denn sie sollten ihren Berg nicht nur gegen die blutdürstigen Männer aus Roland halten, sondern überdies eine Kultur aufbauen können, die auch außerhalb des Berges Bestand hatte. Bis zu diesem Jahr hatten jene Männer immer wieder an einem jährlich stattfindenden Morden teilgenommen, das als »Frühjahrsputz« bekannt war, einem Schlachtritual, in dem die Bolg ihre Alten, Schwachen und Kranken im Gegenzug dafür herausgaben, für den Rest des Jahres in Ruhe gelassen zu werden.
Doch seit diesem Frühling wehte ein anderer Wind um die Gipfel der Zahnfelsen. Die Soldaten Rolands waren wie gewöhnlich gekommen, auf Tristan Stewards Befehl zweitausend Mann stark. Sie hatten zu ihrem Leidwesen herausgefunden, dass die Ungeheuer, die sie mit Gleichgültigkeit zu töten gewohnt waren, leider inzwischen selbst das Abschlachten von ihnen gelernt hatten. Achmed hatte die Nachricht vom Massaker an der orlandischen Brigade durch die Bolg dem Herrn von Roland persönlich überbracht, ihn in seinem eigenen Schlafzimmer geweckt und ihm ein Ultimatum gestellt, das zehn Tage später zu einem widerstrebend abgeschlossenen Friedensvertrag geführt hatte.