Ich bin das Auge, die Klaue, der Fersensporn und der Beuschel des Berges. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass dein Heer aufgerieben wurde.
Der Herr von Roland war bebend aus dem Schlaf erwacht und hatte nicht aufgehört zu zittern, während er der sandigen Stimme gelauscht hatte, die ein Teil der Finsternis selbst zu sein schien.
Falls es dir gelingt, noch eine Weile am Leben zu bleiben und unser Treffen geheim zu halten, wirst du in zehn Tagen ein Handels und Friedensabkommen mit uns abgeschlossen haben...
Meine Abgesandte wird dich in genau zehn Tagen an der bestehenden Grenze zwischen meinem Reich und Bethe Corbair erwarten. Bist du nicht pünktlich, rückt die Grenze mit jedem Tag ein Stück zurück. Wenn du aus irgendwelchen Gründen nicht reisen möchtest, brauchst du also nur hier zu warten. In etwa vierzehn Tagen würde die Grenze gleich hier durch deine Festung verlaufen.
Tristan Steward, sein Vetter Stephen Navarne, der Herzog der Provinz, die seinen Familiennamen trug, und Tristans Bruder Ian Steward, der Seligpreiser von Canderre-Yarim, waren tatsächlich an der Grenze erschienen. Die ersten beiden hatten politische Ziele verfolgt, der Seligpreiser religiöse. Rhapsody hatte ihre Verhandlungen sanft begleitet und sie zu Handelsabkommen verführt, die sehr vorteilhaft für die Bolg waren, sowie Friedensverträge abgeschlossen, die Roland knebelten. All das hatte sie mit einem unbewussten Zwinkern ihrer grünen Augen erreicht. Tristan Steward war in seine Zentralprovinz und zu seiner unangenehmen Verlobten zurückgekehrt und hatte das beunruhigende Gefühl gehabt, dass er sowohl seine Geburtsrechte als auch seine Seele an Ylorc übergeben hatte.
Was Tristan Steward nicht erkennen konnte, war die Art der Zündschnur, die seine falsche Entscheidung, eine ganze Brigade gegen Achmeds Truppen zu schicken, in Brand gesetzt hatte.
Der natürliche Prozess, diplomatische Bande mit einer neuen Herrschaft zu knüpfen, ist üblicherweise lang, und das aus gutem Grund. Ein frisch gekrönter König braucht Zeit, alles über sein Reich in Erfahrung zu bringen, was er wissen muss, und die guten und schlechten Aspekte der Beziehungen zu seinen Nachbarn, Verbündeten und Feinden kennen zu lernen. Die Vernichtung von Tristans Heer hatte diesen Prozess beschleunigt. Die Schreckenstat hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Provinzen von Roland und die angrenzenden Länder Sorbold im Süden, Gwynwald im Westen und Hintervold im Norden und sogar in den Nationen hinter den Zahnfelsen im Osten verbreitet. Nur das Lirin-Reich von Tyrian, jener ausgedehnte Wald, der an die südöstliche Küste grenzte, hatte keinen Botschafter nach Ylorc geschickt und nicht erkennen lassen, ob die Besteigung von Gwylliams Thron durch einen Firbolg-Kriegsherrn irgendeinen Eindruck hinterlassen hatte.
Von dieser Ausnahme abgesehen, waren die Nachbarländer Ylorcs eifrig darauf bedacht, so viele Friedensvereinbarungen wie möglich mit den Bolg einzugehen und auch den Handel ein wenig voranzutreiben.
Besonderes Interesse fand sich in Sorbold, dem dürren Land der Sonne, das früher Teil des cymrischen Reiches gewesen war, nun aber allein stand und eine unabhängige Nation war, die mit Roland nur durch Beziehungen zum alten Patriarchen von Sepulvarta verbunden war, dem religiösen Haupt beider Länder. Die Sorbolder wollten unbedingt Zugang zu den ausgezeichneten Waffen haben, die in den Feuern der Firbolg-Schmieden hergestellt wurden. In ihrem Land gab es nur wenige Bodenschätze, und die Stahlproduktion war teuer und schwierig.
So brachten sie diese Frage durch ihren Botschafter Syn Crote vor, der für seine Überredungskunst bekannt war. Doch während Achmed Verträge für andere Güter unterzeichnete, weigerte er sich, Waffen an Sorbold zu verkaufen, denn es war äußerst unklug, eine Nachbarnation mit den eigenen Beständen auszurüsten, wie freundlich ihr Botschafter auch immer sein mochte. Der Kronprinz von Sorbold biss sich auf die Zunge und lächelte gequält, doch jeder Narr konnte sehen, dass diese Weigerung früher oder später mindestens zu weiteren Diskussionen und möglicherweise zu Schlimmerem führen würde. Doch im Augenblick herrschte Frieden.
Sobald die Handelsabkommen unterzeichnet waren, entwarf Achmed einen Plan, diese Abschlüsse und andere Übereinkommen und Schriftstücke vor der wahllosen und unerklärlichen Gewalt zu schützen, die das neue Land geißelte, seit er, Rhapsody und Grunthor hier aus der Wurzel ans Licht gekrochen waren.
Eine Reihe von bewachten Karawanen, die in wöchentlichen Abständen von fünfzig Soldaten Tristan Stewards begleitet wurden, machte die Runde in allen miteinander verbundenen Ländern des mittleren Kontinents: von Ylorc nach Bethe Corbair, nach Sorbold, nach Sepulvarta, über die Krevensfelder nach Bethania und Navarne, dann weiter nach Tyrian, nach Avonderre, nach Gwynwald und Canderre, nach Norden in das Eisstarrende Hintervold, dann ostwärts in die Hitze Yarims und zurück und schließlich wieder nach Ylorc. Die Route war einfach zu bereisen, auch wenn sie durch unterschiedliches Gelände führte und dabei auf das alte cymrische Straßennetz zurückgriff, das in den besseren Tagen des Reiches erbaut worden war. Mit der Wiedereinführung der verhältnismäßig sicheren Post und des Reisens ging ein Gefühl der Erleichterung einher, denn in den letzten zwanzig Jahren hatten sich die verschiedenen Gebiete des Kontinents sehr isoliert gefühlt, während die Gewalt ein schreckliches Ausmaß erreicht hatte. All jene, die in Wagen und Händlerkarren unterwegs waren, planten ihre Reisen so, dass sie möglichst mit den wöchentlichen Karawanen zusammenfielen, und waren dankbar für deren Schutz.
Für eine Gruppe aber, eine unbekannte, geheime Gruppe in einer kleinen Stadt, bedeuteten die Postkarawanen etwas völlig anderes. Für die Finder stellten sie die erste Möglichkeit in ihrer Geschichte dar, etwas an einem weit entfernten Ort zu suchen, das ihnen dabei helfen könnte, die Stimme wieder zu ihnen zurückzubringen.
Selbst die Bolg-Bevölkerung, die seit fünf Jahrhunderten in denselben Bergen lebte, dieselben Wachen hielt und dasselbe Reich bewohnte, wusste nichts von der Existenz der Finder, die unter ihnen lebten. Es handelte sich um eine Geheimgesellschaft, deren Mitgliedschaft unregelmäßig in verschiedenen Klanen weitergegeben wurde und unklaren Linien folgte. Die harte Wirklichkeit des Firbolg-Lebens verband sich mit einem entschiedenen Mangel an Kultiviertheit, soweit es Ahnenforschung anging; daher war es ihnen nicht möglich, gewisse Entwicklungen zu durchschauen. Selbst innerhalb der einzelnen Familien wurde das Geheimnis gut gehütet. Der Vater sprach nicht mit dem Sohn darüber, der Ehemann nicht mit seiner Frau. Niemand wusste etwas von den Findern außer den Findern selbst, und selbst sie versuchten nicht, die Namen aller herauszubekommen, welche den Ruf verspürten.
Es war ein Ruf im wahrsten Sinne des Wortes, der sie zusammenbrachte. Sie hatten sonst nichts gemeinsam keine körperlichen Eigenschaften, die sie als verbindend bezeichnet hätten. Zum Teil lag der Grund dafür in der weit verbreiteten Verunreinigung des bolgischen Blutes. Es war eine rechte Bastard-Rasse, deren Blut von jeder anderen Rasse verfälscht worden war, mit der sie Kontakt gehabt hatten; daher gab es keine reinen Bolg-Merkmale. Ein anderer Grund bestand jedoch darin, dass sie sich im Schutz der Dunkelheit trafen und daher nicht sehen konnten, wer die anderen waren und dass es bei den meisten von ihnen ein einzigartiges Merkmal gab ein etwas menschlicheres oder vielleicht auch nur etwas edleres Aussehen als bei den anderen Bolg.
Doch das Aussehen war nicht der Hauptzug, den die Finder gemeinsam hatten. Wenn das Bolg-Leben weniger tückisch gewesen und nicht so häufig im frühen Tod geendet wäre, hätte man vielleicht bemerkt, dass die Finder eine Neigung zur Langlebigkeit hatten, jedenfalls im Vergleich zu Firbolg-Maßstäben. Aber da die tägliche Wirklichkeit in Ylorc hart war, gab es so viele Fälle frühen Todes, dass diese Anlage nie zu einer offenkundigen Tendenz wurde. Sogar die neue Vierergruppe des Kriegsherrn, die im vergangenen Winter im Berg eingetroffen war, hatte schon einen Todesfall erlebt. Die Zweite Frau, ein junges, gelbhaariges Mädchen namens Jo, von dem die Bolg geglaubt hatten, sie sei König Achmeds weniger geschätzte Kurtisane, war gestorben, als die Blätter fielen, kaum ein Jahr nach ihrer Ankunft.