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Achmed glättete den Umhang; er hatte Angst, das Kind noch einmal zu berühren. Schnell wandte er sich um und ging zurück zu dem Schutthaufen, den er hinter dem Tunnel erklommen hatte. Als er gerade hinaufsteigen wollte, hielt er plötzlich an und starrte auf die dunkle Wand vor ihm.

Der rußgeschwärzte Stein veränderte sich und wirkte an manchen Stellen wie Brotteig. Achmed sog scharf und still die Luft ein, als die Mauer sich zu verflüssigen und dann zum konvexen Relief einer linken Hand zu verdrehen schien.

Er sah zurück auf das Kind, aber es hatte sich nicht bewegt; eher schien es in einen noch tieferen Schlaf gefallen zu sein.

Er richtete den Blick wieder auf die Hand in der Mauer. Einen Moment lang behielt der Stein diese Form. Dann verlängerten sich der Daumen und die anderen Finger, streckten sich nach außen, bis sie Kanäle bildeten und langen, dünnen Tunneln glichen. Die Innenfläche des Handreliefs blieb unverändert, auch als die Fingertunnel zu tiefen, dunklen Linien verdorrten und dann verschwanden.

Es war eine Karte, aber er wusste nicht, welches Gebiet sie bezeichnete.

Achmed zog den Handschuh aus und berührte die Wand. Das Bild war verschwunden; die Basaltoberfläche war zu ihrer früheren Gestalt zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

»Vielen Dank«, flüsterte er.

Er erstieg den Schuttberg und eilte durch den Tunnel auf die rasenden Kriegsvorbereitungen zu, die sich wie ein Buschfeuer durch den ganzen Berg und über die Heide bis zu den hintersten Gebieten des Versteckten Reiches fraßen.

23

Bei der Stadt Tyrian, im Wald von Tyrian

Ein Vogelruf stieg von den Grenzwächtern Tyrians auf, während sie sich der kastanienbraunen Stute und ihren Reitern näherten. Oelendra lauschte dem Triller: Ein Reiter mit einem Kind. Sie lächelte, als sie die Codenamen hörte: Es ist die Göttin ohne Sünde. Sie verließ das Zelt, um Rhapsody zu begrüßen.

Ein kleiner, braunhäutiger Junge ritt vor ihr auf der Stute, ein Kind mit leuchtendem schwarzem Haar und großen, dunklen Augen. Der Junge starrte mit der Ehrfurcht eines Wüstenbewohners umher, der nie zuvor in einem Wald gewesen war. Rhapsody sprach immer wieder mit sanfter Stimme zu ihm, was ihn zu beruhigen schien. In ihrem Arm, in seinem Rücken und damit außerhalb seines Blickfeldes hielt sie ein Bündel, von dem Oelendra annahm, dass das Kind darin eingewickelt war. Einen Moment später ertönte ein dünnes Kreischen und bestätigte ihre Vermutung. Oelendra kicherte, als die Vogelstimmen sofort die Anzahl der Kinder bei der Reiterin neu nannten.

Vier lirinsche Wachen begrüßten sie am Rande der inneren Waldgrenze, wie es jedes Mal der Fall war. Einer ergriff den Zügel, den sie ihm entgegenwarf, während ein anderer diejenigen Satteltaschen abnahm, die sie ihm bezeichnete, und sie zu Oelendras Haus trug. Die anderen beiden Grenzwächter schritten den Weg ab, den sie genommen hatte, um sicherzustellen, dass ihr niemand gefolgt war, während der Erste ihr den Zügel zurückgab. Sie alle waren an dieses Reglement gewöhnt; es war das dritte Mal, dass Rhapsody Oelendra Kinder brachte, damit diese sie in ihre Obhut nahm. Doch nun war sie zum ersten Mal allein gekommen. Bei den früheren Gelegenheiten war sie zusammen mit Achmed erschienen. Die Lirin hatten den Fir-Bolg-König als Rhapsodys Gast ehrerbietig behandelt, doch sie hatten ihm nicht den königlichen Pomp gewährt, mit dem sie einen anderen möglicherweise empfangen hätten. Dies war die Vereinbarung, mit der sie alle einverstanden gewesen waren, als sie die Strategie entworfen hatten, mit der die Kinder des F’dor aufgespürt und eingesammelt werden sollten. Oelendra genoss es, nach der wachsenden Schar zu sehen, bis Rhapsody zurückkehren und sie hinüber zu Fürst und Fürstin Rowan bringen konnte.

Zu Beginn hatte Oelendra gezögert, die Brut des Dämons aufzunehmen, den sie mehr als alles andere hasste, doch schließlich hatte sie sich überreden lassen und war froh darüber. Obwohl einige der Kinder sehr wild waren und besonders eines sich als ausgesprochen unangenehm erwies, erkannte sie allmählich an, dass sie zumindest in gewisser Hinsicht trotz ihrer dämonischen Veranlagung Kinder wie alle anderen waren. In der Zeit zwischen Rhapsodys Besuchen waren sie Oelendra ans Herz gewachsen selbst Vincane, der sie mehr ärgerte als jedes andere Kind, dem sie je begegnet war.

Auch Rhapsody fühlte sich zu ihnen hingezogen. Die meisten hatte sie unter schlimmen Umständen angetroffen, denn alle waren Waisen. Sie hatte stets versucht, wenigstens ein paar Tage damit zu verbringen, es ihnen in dem Wald schön zu machen, bevor sie und Achmed wieder aufbrachen und nach den anderen suchten. Ohne seine Fähigkeit, das Blut aus der alten Welt aufzuspüren, wäre es unmöglich gewesen, sie zu finden. Das hatte Rhapsody Oelendra gesagt, und es stimmte. Abgesehen von der unsichtbaren Zeichnung, die nur Achmed erkennen konnte, und einem gelegentlichen wilden Blick waren sie von anderen Kindern nicht zu unterscheiden.

Rhapsody schnalzte mit der Zunge, und die Stute ging weiter. Sie war offenbar müde und brauchte Wasser. Eine Ziege, vom Pferd verdeckt, war an den Sattel gebunden und folgte hinterher. Oelendra sah, wie das Lächeln der Sängerin heller wurde, als diese sie bemerkte. Rhapsody band etwas von ihrem Gürtel los, als Oelendra sich neben sie stellte.

»Ich bin froh, dass du wieder hier bist; es hat länger gedauert als erwartet.«

»Das Wetter hat mich in Zafhiel festgehalten. Der Schneesturm war schlimmer als der in Hintervold, als wir Anya und Mikita geholt haben. Hat die Salbe ihre Frostbeulen geheilt?«

»Ja, es geht ihnen viel besser.«

»Und Arie?«

»Er hat noch einige Schwierigkeiten mit seinem Bein«, antwortete Oelendra, während Rhapsody mit einer Hand Schwert und Scheide vom Gürtel nahm. »Ansonsten geht es ihm gut.«

»Ich werde mir sein Bein heute Nachmittag ansehen, wenn sich alles beruhigt hat. Vor ein paar Tagen ist mir eine Idee für eine andere Behandlung gekommen. Da wir jetzt wenigstens einen Teil seines richtigen Namens kennen, können wir es bestimmt ganz heilen.«

»Mari stiehlt keine Lebensmittel mehr; ich glaube, er hat es einfach nicht mehr nötig, weil es genug davon gibt. Und Ellis hat etwas für dich gemacht.« Die Lirin-Kriegerin sah ihrer Freundin ins Gesicht, während diese von den Kindern erzählte; sie glühte vor Freude. Rhapsody hielt das Schwert von der Stute fort. »Hier, Oelendra«, sagte sie und hielt ihr die Tagessternfanfare mitsamt der Scheide entgegen. »Bewache sie für mich, ja? Wenn ich allein in Sorbold bei dem Versuch sterben sollte, einen Preisgladiator zu stehlen, will ich nicht, dass es ihnen in die Hände fällt. Es könnte Krieg nach Tyrian bringen.«

Oelendra sah sie einen Moment lang an und nickte dann. Sie schien kurz zu zögern und griff dann nach der Tagessternfanfare.

Rhapsody legte ihrer Lehrerin das Schwert in die Hand. »Ich sollte es dir sofort geben, sonst könnte ich es vergessen; es ist wie eine Verlängerung meiner selbst.«

»So sollte es sein.« Oelendra nahm die Waffe und steckte sie an ihren Gürtel. Sie versetzte der Stute einen sanften Klaps, um sie zu beruhigen, dann streckte sie die Arme nach dem Kind aus. Es wich zurück und hielt sich an Rhapsody fest; Angst zeigte sich auf seinem braunen Gesicht.

Die Sängerin lehnte sich vor und redete sanft mit dem Jungen im Dialekt der fernen westlichen Provinzen. »Es ist alles in Ordnung, Jecen. Das ist Oelendra. Sie ist meine Freundin, und sie ist sehr nett. Sie wird dir beim Absteigen helfen. Hab keine Angst.« Die Angst in den dunklen Augen des Jungen löste sich unter dem warmen Lächeln Rhapsodys auf. Er drehte sich nach Oelendra um und streckte die rundlichen Arme aus.

»Welch ein netter kleiner Mann. Du musst hungrig sein«, sagte die grauhaarige Frau, hielt ihn gegen ihre Hüfte und nahm die Satteltasche, die Rhapsody ihr entgegenstreckte. »Das Mittagessen ist fast fertig. Kommst du mit dem Säugling allein zurecht, Rhapsody?«