»Ja«, erwiderte Rhapsody, wiegte das Kind im linken Arm und hielt sich mit dem rechten am Sattel fest. Sie schwang sich vom Pferd und schlang ihr Gepäck über die Schulter, während einer der lirinschen Wächter wieder das Zaumzeug nahm. »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Mann und erhielt dafür einen seltsamen Blick. Sie fuhr mit den Fingern durch die Mähne der Kastanienbraunen. »Gutes Mädchen«, sagte sie sanft. »Hol dir etwas zu essen und mach ein Nickerchen. Du hast es dir verdient.« Die Stute wieherte, als stimme sie ihr zu. Rhapsody strich der Ziege über den Kopf und kraulte ihr die Ohren, bevor die Tiere weggeführt wurden.
»Wir wollen uns dieses Kleine einmal ansehen«, meinte Oelendra und schaute dem Baby ins Gesicht. Das hässlichste Lirin-Neugeborene, das Oelendra je gesehen hatte, war in eine lederne Flagge eingewickelt, doch Rhapsody schaute mit einem sanften Blick auf es herab, der ihrem Gesicht etwas strahlend Mütterliches verlieh.
»Ist sie nicht niedlich?«, gurrte sie. »Sie ist während der langen Reise so geduldig gewesen. Du wirst sie mögen, Oelendra. Sie ist so gut.« Oelendra musste lächeln.
Die Wachen führten das Pferd fort, und die beiden Frauen brachten die Kinder in Oelendras Quartier. Oelendra gab Jecen ein paar von den Kiranbeeren, die sie in der Tasche hatte.
»Hattest du Probleme auf der Reise?«, fragte sie, während das Kind die Früchte aus ihrer Hand naschte.
»Nein, es sei denn, du zählst den Umstand dazu, dass die Kleine andauernd gesäugt werden wollte.« Rhapsody lachte. »Vermutlich ist das einer der Gründe, warum ich sie so mag. Sie ist die erste Person, die glaubt, ich hätte etwas Wesentliches unter dem Hemd verborgen.«
Oelendra lächelte erneut. »Irgendwie bezweifle ich das.«
»Ich wünschte, ich hätte dem armen Kind helfen können. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, mit den beiden, der Ziege und einem Wasserschlauch voll entrahmter Ziegenmilch zu reiten, der mir aus dem Hemd ragte. Glücklicherweise hat mich niemand angehalten.«
Oelendra lachte wieder und öffnete die Zeltklappe.
Vor dem Zelt stand Quan Li, das Älteste der Kinder, die Rhapsody zu Oelendra gebracht hatte. Das Gesicht der Sängerin erhellte sich, als sie das Mädchen sah. Sie umarmten sich, und Rhapsody drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir, Quan Li?«, fragte sie, als Oelendra Jecen auf dem Boden absetzte. Rhapsody nahm seine Hand und legte sie in die des Mädchens. »Das ist Jecen, und er ist sehr hungrig. Glaubst du, du kannst ihn mit nach drinnen nehmen und ihm einen Platz für das Mittagessen zuteilen? Geh mit Quan Li, Jecen. Ich komme gleich nach; ich will nur noch kurz mit Oelendra reden.« Jecen winkte ihr zu, als er weggeführt wurde, und sie winkte zurück.
Die Frauen warteten, bis die Kinder im Zelt waren, und entfernten sich dann einige Schritte.
»Wie war die Geburt?«, fragte Oelendra und fuhr mit der Hand zärtlich über den spitzen Kopf des Säuglings.
»Wenn das Schicksal freundlich ist, werde ich nie wieder so etwas sehen müssen«, sagte Rhapsody und erblasste unter der Erinnerung. »Ich habe versucht, das Leid der Mutter so gut wie möglich zu lindern, aber es ist mir nur gelungen, das Kind zur Welt zu bringen und die Mutter so lange am Leben zu erhalten, dass sie es in den Arm nehmen konnte.« Sie zog das Kleine an ihre Wange und küsste es. »Ich erschrecke bei dem Gedanken, wie es bei den anderen gewesen ist, wo kein Heiler dabei war. Sie haben ihre Kinder vermutlich nicht einmal gesehen. Es macht mich krank, wenn ich daran denke.« Ihr Blick verschwamm, und Oelendra legte ihr den Arm um die Schulter.
»Wenigstens war es das Letzte«, sagte sie.
»Nicht ganz«, berichtigte Rhapsody sie grimmig. »Ich muss den Ältesten noch holen. Mit ein wenig Glück wird Llauron dazu etwas einfallen. Achmed ist schon nach Ylorc zurückgereist, und ich bin nicht gerade erpicht darauf, ohne ihn loszuziehen. Seine Hilfe bei der Suche nach den Ersten neun war unschätzbar.«
»Wenn du die richtige Verstärkung bekommst, wird es schon gehen«, sagte Oelendra.
»Sorboldische Gladiatoren sind im Ring und beim Kampf Mann gegen Mann gefährlich, aber sie sind nicht gewöhnt, gegen mehrere Feinde gleichzeitig zu kämpfen. Sieh nur zu, dass du nicht allein bist. Und denk daran, dass du ihn umbringst, falls du in eine unhaltbare Lage gerätst. Es ist schön und gut, dass du ihn retten willst, aber dein Leben ist es nicht wert.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Rhapsody ihr bei. Das Neugeborene streckte sich und gähnte und rief bei beiden Frauen eine freudige Reaktion hervor.
»Du hast Recht, was sie betrifft«, sagte Oelendra. »Sie ist schön.«
»Sie ist eine Kämpferin«, meinte Rhapsody stolz. »Sie hat wirklich einen unaussprechlichen Albtraum durchgemacht. Ich wünschte, du hättest das Gesicht ihrer Mutter gesehen, als sie ihr Kind in den Armen gehalten hat. Sie konnte nicht reden, aber...«Ihr versagte die Stimme, und sie neigte den Kopf. Als sie wieder aufschaute, hatte ihr Gesicht einen harten Ausdruck angenommen. »Dieser Dämon hat mir wirklich einen guten Grund gegeben, ihm das Herz herauszureißen«, sagte sie gefühllos. »Ich will es ihm heimzahlen.«
»Mäßige deinen Hass; er wird ihn gegen dich einsetzen«, sagte Oelendra. Sie fuhr mit ihren langen Fingern durch das schwarze Haar des Kindes. »Dein Grund, ihn zu vernichten, sollte nicht die Vergangenheit der Mutter, sondern die Zukunft des Kindes sein. Wenn du das beherzigst, wirst du Erfolg haben, weil es das Richtige ist, und nicht, weil du Rache üben willst. Im Ersteren steckt mehr Macht als im Letzteren. Das ist etwas, das ich nicht tun kann. Mein Hass ist zu tief eingewurzelt, aber du, Rhapsody, hast die Möglichkeit, die Dinge gerade zu rücken. Die Scheußlichkeit seiner Taten aber sollte deine Beherrschung nicht zerstören.«
»Wenn du so redest, klingst du wie meine Mutter«, meinte Rhapsody lächelnd. »Ich frage mich oft, ob ihr beiden verwandt seid.«
»Sie und ich haben einiges gemeinsam«, sagte Oelendra und erwiderte ihr Lächeln. »Wie sollen wir die Kleine benennen?« Sie sah zu, wie die Runzeln im Gesicht des Neugeborenen tiefer wurden, als es im Schlaf die Lippen schürzte und saugende Bewegungen machte.
»Schon wieder«, lachte Rhapsody. »Da kommen mir einige lustige Dinge in den Sinn, aber ich glaube, ich würde sie gern Aria nennen.« Sie liebkoste die kleine Hand, und die Erinnerung an Ashe stieg in ihr auf. Schmerzlich spürte sie seinen Verlust, als sie daran dachte, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. So würde sie nie wieder hören, wie er ihren Namen rief. Sie dachte an die Zukunft, die mit jedem Tag näher kam eine Zukunft, an der er nicht teilhaben würde. Sie fuhr mit dem Finger über die winzigen Knöchel und dachte daran, dass diese Kinder ein gewisser Trost sein würden, wenn es so weit war. Oelendra hatte ihre eigenen Erinnerungen bei diesem Namen. »Ausgezeichnet«, sagte sie leise und dachte an damals zurück.
»Mein erstes Geschenk für sie war ein Lied das Lied, das ihrer Mutter ein paar Augenblicke zusammen mit ihr geschenkt hat«, sagte Rhapsody und blinzelte einige Tränen fort. »Wenn es nicht zu anmaßend ist, würde ich eines Tages gern jedem Kind in Tyrian dasselbe Geschenk machen: ein Lied, das nur ihnen allein gehört. Glaubst du, das ist dumm?«
»Nein«, antwortete Oelendra und lächelte sie freundlich an.
»In Serendair hat die Königin, der ich gedient habe, etwas Ähnliches getan, doch durch eine andere Art von Geschenk. Du würdest eine schöne Tradition fortsetzen. Komm, wir wollen nach den anderen sehen. Ich weiß, dass sie auf dich warten.« Sie zog die Zeltklappe zurück, damit Rhapsody eintreten konnte, und hörte den Chor erregter Kinder, die sie sofort umschwärmten und alle gleichzeitig auf sie einredeten. Sie sah, wie das Gesicht der Sängerin vor Freude glühte, während sie sich niederbeugte, um die Kinder zu umarmen und ihnen das Neugeborene zu zeigen. Sie wusste, dass es nicht die einzige Tradition der Königin von Serendair war, die Rhapsody eines Tages wiederholen würde.
»Dann bist du also auf dem Weg zu Llauron?«, fragte Oelendra später, als sie das schlafende Kind in die Wiege legte. Sie bedeckte es mit einem Laken aus gesponnener Wolle und strich ihm sanft über den Rücken, bevor sie sich in ihren Sessel setzte.