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Rhapsody erschauerte. Sie eilte hinunter zu den Türen mit den eingelassenen Fenstern zu dem Hof, in dem Khaddyr und seine Soldaten warten sollten.

Als sie den Hof erreicht hatte, spähte sie hinaus in die verschneite Nacht.

Niemand war dort.

Das Fenster reichte vom Boden bis zur Decke und schaute auf einen leeren Hof hinaus, der offenbar den Kämpfern als Übungsplatz vorbehalten war. Der Schnee fiel leicht, als sie die Tür öffnete und auf den gefrorenen Boden trat. Die Pflastersteine stachen ihr in die nackten Füße. Sie krümmte sich und dachte an den langen Marsch zum Treffpunkt, falls die Verstärkung nicht bald eintraf.

Nach einigen Minuten wurden ihre Füße gefühllos. Rhapsody ging zurück durch die Tür, schloss sie vorsichtig und hastete wieder in die Quartiere der Gladiatoren.

Sie überprüfte erneut Constantins Atmung. Er war noch bewusstlos, lebte aber. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick den Gang entlang packte sie das Laken und zog es aus dem Zimmer.

Als sie schließlich wieder vor der Tür zum Hof stand, gab es immer noch kein Zeichen von Khaddyr. Ein tiefes Seufzen erklang aus dem Laken, doch der Gladiator bewegte sich nicht. Rhapsody öffnete die Tür. Schnee fegte über ihren beinahe nackten Körper. Nun zitterte sie vor Kälte genauso stark wie vorhin vor Angst.

»Sei still«, murmelte sie. »Wenigstens bist du angezogen und hast ein Laken. Ich hätte dich auch in einen Lendenschurz stecken können; dann wüsstet du, wie ich mich jetzt fühle.«

Nur der heulende Nachtwind antwortete ihr.

Als Rhapsody den Treffpunkt erreicht hatte, waren ihre stechenden Füße von Blut gestreift. Sie verfluchte ihr fehlendes Schuhwerk und wünschte, es wäre ihr möglich gewesen, ihre Schuhe an einem Platz zu verstecken, wo sie sie hätte holen können, doch der Ausgang war mindestens eine halbe Meile von der Arena entfernt, und sie hatte keine Möglichkeit, nach ihnen zu suchen.

Khaddyr und die Verstärkung waren bisher nicht eingetroffen, doch Rhapsodys Stute stand noch im selben Dickicht, wo sie das Tier angebunden hatte. Keine Spuren außer denen von den Hufen des Pferdes unterbrachen die geschlossene Schneedecke, die sich seit Rhapsodys Abwesenheit gebildet hatte. Das Tier schien froh zu sein, sie zu sehen. Rhapsody durchsuchte die Satteltasche und holte eine Ration Weizenmehlkuchen hervor, die sie dem Pferd als Entschädigung für das lange Warten gab. Dann zog sie die wenigen Kleidungsstücke heraus, die sie mitgebracht hatte eine Hose und Handschuhe und streifte sie rasch über.

Inzwischen war der Schneefall heftiger geworden. Rhapsody beschirmte die Augen und schaute in den dunkler werdenden Himmel. Ein Sturm zog auf. In der Ferne, aus der sie gekommen war, sah sie, wie der Wind auffrischte und die Felder zwischen Sorbold und dem Wald niederdrückte. Die Lichter des Stadtstaates von Jakar blitzten am Rande ihres Blickfeldes auf und verschwanden allmählich, als der Schneefall heftiger wurde. Rhapsody rieb sich die Arme und versuchte, sich warm zu halten. Das Seidenhemd, das sie aus Constantins Zimmer mitgenommen hatte, hielt kaum den Wind und schon gar nicht die Kälte ab. Khaddyr und die Verstärkung sollten schon längst hier sein, dachte sie kläglich, als der Gladiator erneut unter seinem Laken ächzte. Er musste vom Boden verschwinden, ansonsten würde er erfrieren.

Sie entdeckte einen starken Baum in dem Wäldchen und führte ihr Pferd zu ihm. Sie wand ein Seil um ihn, schlang es um ihre Hüfte und die des Tieres und hievte Constantins schlaffe Gestalt mithilfe dieses Flaschenzuges auf den Rücken der Stute. Der Gladiator war mindestens dreimal so schwer wie sie.

Es gelang ihr gerade noch, ein Unglück zu verhindern, als ihr das Seil aus den tauben Fingern rutschte. Der schwere Körper hätte das Pferd verletzen können, wenn sie das Seil nicht rechtzeitig gepackt hätte. So aber wurde sie eine kurze Strecke auf dem Bauch durch den Schnee geschleift.

Schließlich hatte sie ihn sicher untergebracht und wickelte ihn noch fester in das Laken und einige Fetzen, die sie bei sich hatte. Sie gab ihm etwas vom Inhalt ihres Weinschlauches und ihrer Essensration ab, als er ein wenig zu sich kam. Nach dem Essen schickte sie ihn mit dem Rest des Schlafmittels zurück in die Bewusstlosigkeit. Die Dämmerung nahte, und der Schnee mischte sich mit Regen und Eis und brannte auf Rhapsodys nackter Haut. Sie suchte den Horizont ab, sah aber weit und breit niemanden herankommen. Der schreckliche Gedanke, den sie die ganze Nacht über verdrängt hatte, fand nun neue Nahrung in ihrem Herzen. Vielleicht würde Khaddyr überhaupt nicht kommen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hatte keine nennenswerten Vorräte an Essen und Wasser, und sie waren den Elementen derart ausgesetzt, dass keiner von ihnen die Kälte lange überleben würde. Rhapsody benutzte ihre Feuermacht, um sich und ihren Gefangenen zu wärmen, doch nach Sonnenuntergang forderte der eisige Wind seinen Tribut, und ihre Kraft verebbte.

Als schließlich ein ganzer Tag vergangen war, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie auf sich allein gestellt war und das auch bleiben würde. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Verstärkung überfallen oder getötet worden war oder sich nur verirrt hatte, doch nun konnte sie nicht länger warten. Sie wusste, dass Llauron sich um ihr pünktliches Eintreffen gekümmert hatte; also waren sie sicherlich nicht mehr in der Lage, ihr zu helfen.

Rhapsody überprüfte ihre winzigen Vorräte sowie die verbliebene Ausrüstung und zog die Riemen fest, mit denen sie den Gladiator auf das Pferd gebunden hatte. Sie dachte daran, wie ihre Mutter immer darauf bestanden hatte, dass sie einen Ersatzschal mitnahm, wohin sie auch ging. Dieser Rat stellte sich nun verspätet als richtig heraus. Der Wald war ihr unbekannt; sie hatte erwartet, sich für den Rückweg nach Tyrian auf Llaurons Männer verlassen zu können. Vielleicht waren sie und Ashe hier vor langer Zeit durchgereist. Falls das stimmte, würde sie möglicherweise auf dem Weg die Orientierung wieder finden. Jedenfalls konnte sie nicht länger an diesem Ort bleiben.

Sie gab der Stute einen geschnalzten Befehl und ritt in den dichter werdenden Schnee und den Wind hinein. Ihre Füße wurden taub, und ihr Herz sehnte sich nach Oelendras knisterndem Kamin und der Wärme, die sie dort finden würde.

30

Haguefort, Provinz Navarne

Es war ein langer, schwieriger Tag gewesen. Ein bitterkalter Wind hatte Hagueforts hellbraune Steinmauern und Fenster fast eine ganze Woche lang umtost, Herzog Stephens Kinder in der Festung eingeschlossen und dafür gesorgt, dass die großen Winterfeuer andauernd in Gang gehalten werden mussten. Die Luft im Schloss war beißend vom Rauch, und das Atmen fiel schwer.

Dass heute zufällig der Geburtstag des schon vor zwanzig Jahren verstorbenen Gwydion von Manosse war, machte das Atmen kaum leichter. Die Trauer bei der Erinnerung daran, wie er seinen Kinderfreund vor so langer Zeit zerschmettert und blutüberströmt auf dem Gras unter dem ersten sommerlichen Vollmond gefunden hatte, bedrückte Stephen und öffnete ihm die Türen für das Gefühl des Verlustes, das er auch bei Lydia empfand und das wie Ziegelsteine auf seiner Brust lag. Er brachte Melisande ohne das übliche Wiegenlied zu Bett, gab Gwydion ohne das gewohnte Gespräch einen Gutenachtkuss und berief sich dabei auf seine hämmernden Kopfschmerzen.

Gegen Mitternacht erstarb der Wind, und Stephen entschied, für einen Moment hinaus in die Kälte zu gehen. Er öffnete die Balkontüren, trat nach draußen und drückte sich gegen die Wand, als ein beißender Windstoß hereinfuhr und ihm Hände und Gesicht gefühllos machte. Trotz der Kälte war die Luft süß und rein, als er sie einatmete, doch noch immer schmeckte er Reste von Rauch, der aus den vielen Kaminen des Schlosses aufstieg.