Die Leuchttürme waren dunkel; die Lampenanzünder hatten es aufgegeben, die Lichter in diesem Wind immer wieder zu entzünden, und daher war es im Hof unter ihm finsterer als gewöhnlich. Stephen erkannte die Gebäude dennoch: den Stall und die Kasernen, die niedergebrannt und wieder aufgebaut worden waren Schäden eines unerklärlichen Bauernaufstandes im vergangenen Frühling , und das cymrische Museum, das den Hof an der Nordseite begrenzte und dessen massive Steinwände zwar von Ruß geschwärzt, aber ansonsten unbeschädigt waren. Alles schien ruhig zu sein, als ob der Wind Welt und Zeit eingefroren hätte.
Dann sah er es. Zuerst glaubte er, es sei nur eine Einbildung, ein bläuliches Schimmern, das einen Moment lang im einzigen Fenster des Museums aufblinkte und rasch wieder verschwunden war. Stephen blinzelte das Wasser fort, das der stechende Wind ihm in die Augen getrieben hatte. Es war da gewesen; er war sich sicher.
Schon wieder.
Stephen überquerte den vereisten Balkon, zog sein Hemd enger um sich und rutschte über den Schnee, der zwischen den Steinen des erhöhten Bodens gefroren war. Er stand am Geländer und starrte hinunter. Er war ganz sicher, dass er es gesehen hatte.
Da war es.
Es würde lange dauern, zum Museum zu gehen, denn dafür musste er die Festung durchqueren. Stephen verwarf diesen Gedanken und kletterte behutsam über das Geländer auf die oberste Stufe der äußeren Wendeltreppe, die von dem halbkreisförmigen Balkon hinunter in den Hof führte. Er eilte die Stufen hinab und über die Schneehaufen hinweg, die der Wind auf ihnen angehäuft hatte.
Als er den Hof durchquert hatte, stachen ihm die Beine vom Waten durch die knietiefen, Eisverkrusteten Schneeverwehungen. Seine Ohren und Hände schrien in stummem Protest auf, als der Wind wieder einsetzte.
Die Museumstür war verschlossen, und es gab keine Anzeichen von Licht, sei es blau oder hell, im einzigen Fenster des Gebäudes, einer halbmondförmigen Scheibe über einer Tür im ersten Stock. Stephen tastete mit Händen, die vor Kälte zitterten, nach seinem Schlüssel. Als er den großen Messingschlüssel an seinem allgegenwärtigen Bund gefunden hatte, steckte er ihn rasch in das rostige Schloss und drehte ihn um. Die Tür ächzte unwillig, als er sie aufdrückte, doch ihr Jammern wurde bald vom Wind verschluckt. Stephen eilte nach drinnen und zog die Tür hinter sich zu.
Das fensterlose Erdgeschoss erinnerte eher an ein Mausoleum als an einen Ausstellungsraum von Artefakten. Es war zu einer Zeit errichtet worden, als cymrische Abstammung beschämend war oder man zumindest nicht mit ihr prahlte. Viel hatte sich seitdem nicht verändert. Die Bevölkerung des Kontinents hatte unter dem Krieg zwischen Anwyn und Gwylliam schwer gelitten und daher wenig Verständnis für die Abkömmlinge all jener, die den Herrschern treu ergeben gewesen waren und so viel Vernichtung nicht nur über sie selbst, sondern auch über die Nachbarvölker gebracht hatten. Aus zwei Gründen war das Museum ohne Fenster gebaut worden. Der erste bestand darin, die historischen Schätze vor den Einwirkungen der Sonne zu schützen. Der zweite bestand darin, sie vor rachsüchtigen Barbaren zu bewahren.
Als Stephen nun einen Blick auf die Ausstellungsstücke warf, verstand er den Drang der nichtcymrischen Bevölkerung, all dies zu zerstören, und gleichzeitig auch den Drang der cymrischen Abkömmlinge, ihre Abstammung zu verheimlichen. Die düster dreinblickenden Statuen und Bruchstücke cymrischer Geschichte hatten ihn seit seiner Jugend begeistert, doch für andere mochten es Überreste aus einer Zeit der Prahlerei sein, in der die Leute mit Kräften begnadet waren, die sie nicht verstanden und die sie verführten, sich selbst als göttergleich anzusehen. Angesichts der Zerstörung, die ihre einst so große Zivilisation über die Welt gebracht hatte, war dieser Groll verständlich.
Verständlich, aber traurig. Stephen betrachtete sein historisches Werk: die sorgfältig geschützten Artefakte, die genauen Reproduktionen alter Manuskripte, die polierten Statuen Ausstellungsstücke, die liebevoll präsentiert waren, aber von niemandem besichtigt wurden. Dem cymrischen Zeitalter wohnte eine Großartigkeit inne, die niemand außer einem Historiker würdigen konnte; es lag ein Funke von Genialität und Erregung darin, ein tiefes Interesse am Leben selbst und seinen Möglichkeiten, mit dem Stephen seit seiner Geburt gesegnet war und das er noch immer in seinem Blut spürte, sogar im Angesicht der Traurigkeit und Verrücktheit seines eigenen Lebens.
Über seinem Kopf polterte etwas auf den Steinboden. Stephen fuhr zusammen. »Wer ist da?«, rief er.
Ein blaues Licht antwortete ihm. Es erfüllte die Treppe am hinteren Ende des kleinen Gebäudes. Stephen ging rasch zu einem der Waffenständer und ergriff ein Breitschwert es war die Waffe, die Faedryth, der König der Nain, auf der letzten cymrischen Versammlung im großen cymrischen Gerichtshof getragen und dort zurückgelassen hatte. Es hieß, dass Faedryth das Schwert voller Abscheu in die Schale des Gerichtshofes geworfen und damit auf ewig seine Bande und die seines Volkes zu der cymrischen Dynastie durchschnitten habe. Danach war er mit seinen Untertanen in Länder jenseits von Hintervold gezogen.
Langsam näherte er sich der Treppe, wo das Licht nun in Wellen herunterwogte.
»Wer ist da?«, wollte er erneut wissen.
Wie zur Antwort wurde das Licht heller, zwingender. Stephen kamen die gewaltigen Glasblöcke in Erinnerung, die in den Wänden der großen Seebasilika Abbat Mythlinis steckten, in der er oft betete. Die Glasblöcke waren unterhalb des Meeresspiegels eingelassen, sodass man das Wasser durch die Wände des riesigen Tempels sehen konnte. Es erfüllte die Basilika mit einem verschwommenen blauen Licht, das in Wellen über die Betenden hinwegrollte. Er schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, und ging langsam und schweigend die Treppe hoch.
Am oberen Ende glitzerte die Kupferstatue der Drachin Elynsynos in dem azurnen Licht; die Juwelen und Vergoldungen blinkten gefährlich. Stephen bückte sich und behielt seine Deckung. Dann verschwand das Licht.
»Hallo Stephen.« Die sanfte und entfernt vertraute Stimme kam aus der hinteren linken Ecke des Raumes.
Beim Klang seines Namens richtete sich Stephen auf und betrat mit dem Königsschwert in der Hand das erste Stockwerk. Eine Gestalt in Mantel und Kapuze stand in der Dunkelheit des Raumes und betrachtete die kleine Ausstellung, die Stephen aus den Habseligkeiten des Gwydion von Manosse zusammengetragen hatte. Der Mann fuhr sanft mit der Hand über das bestickte Tuch, das den Tisch bedeckte. Die Finger kamen auf dem Gestell mit den jungfräulichen Votivkerzen zur Ruhe, das vor der Ausstellung stand.
»Geburtstagskerzen?« Die Stimme der Gestalt war warm und enthielt eine Spur von Neckerei. Stephen packte das Schwert fester und hob es ein wenig. »Erinnerungskerzen. Wer bist du? Wie bist du hier hereingekommen?«
Der Mann wandte sich ihm zu. »Zuerst zur zweiten Frage. Ich bin mit dem Schlüssel hereingekommen, den du mir gegeben hast.«
Stephen trat näher. »Lüge. Außer mir hat niemand einen Schlüssel. Wer bist du?«
Der verhüllte Mann seufzte. »Vielleicht kein Lebender.« Er hob die Hände und nahm die Kapuze ab. »Ich bin es, Stephen. Gwydion.«
»Entferne dich, oder ich hole die Wachen.« Stephen trat einen Schritt zurück und tastete nach dem Treppengeländer.
Ashe packte den Schwertgriff und zog die Waffe aus der Scheide. Kirsdarkes blaues Licht strömte still hervor und glitzerte in Wellen wie fließendes Wasser. Es beleuchtete seine Haare und sein Gesicht, die eine Spur von Kupfer in das Blau mischten.
»Ich bin es wirklich, Stephen«, sagte er sanft und nahm eine passive Haltung ein. »Und ich lebe tatsächlich noch, teils dank deiner Dienste an dem Tag, als du mich auf dem Waldboden gefunden hast.«
»Das ist unmöglich«, murmelte Stephen. Der Schock hatte ihn betäubt. »Khaddyr ... Khaddyr konnte dich nicht retten. Du bist gestorben, bevor ich mit ihm zurückgekommen bin.«
Ashe stieß einen Seufzer des Unbehagens aus und fuhr sich mit der Hand durch die kupfernen Locken. »Es tut mir Leid, dass man dich belogen hat, Stephen. Man kann es einfach nicht hinreichend erklären.«