»Verdammt richtig!«, rief Stephen, warf das Nain-Schwert auf den Boden und zuckte zusammen, als es klappernd auf dem Stein aufschlug. »Du lebst? Seit all den Jahren? Welch ein ekelhafter Scherz war das?«
»Eine Notwendigkeit, fürchte ich«, sagte Ashe sanft. Das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes bedrückte ihn tief. »Es ist kein Scherz, Stephen. Ich habe mich versteckt gehalten.«
Und das weißt du, falls du der Wirt des F’dor bist, flüsterte seine Drachennatur misstrauisch.
»Vor mir? Du konntest nicht einmal mir vertrauen? Du hast es zugelassen, dass ich die ganzen Jahre über geglaubt habe, du seiest tot? Möge die Leere dich holen!« Stephen drehte sich wütend um und machte sich daran, die Treppe hinunterzulaufen.
»Das hätte sie beinahe getan, Stephen. Manchmal weiß ich nicht, ob es ihr nicht schon gelungen ist.«
Der Herzog von Navarne hielt inne. Er sah zurück auf den Umriss seines Freundes, der in den blauen Schatten stand. Sein Blick glitt an der wässerigen Klinge entlang.
»Kirsdarke«, sagte er mit brechender Stimme. »Ich habe es Llauron gegeben, nachdem du ... nachdem er mir gesagt hat, dass...«
»Ich weiß. Vielen Dank.«
Stephen kam zurück in den ersten Stock und rieb sich linkisch die Hände. »Ich hatte Angst davor, es an mich zu nehmen, und noch mehr Angst davor, es dort zurückzulassen, wo du so schwer verwundet gelegen hast«, sagte er langsam. Innerlich krümmte er sich vor den Bildern seiner Erinnerung. »Ich ... wir ... hatten immer Witze darüber gemacht, dass ich es dir stehlen würde, sobald du es errungen hättest...«
Ashe ließ das Schwert fallen und lief auf seinen Freund zu. Sie trafen sich auf halber Strecke in einer verzweifelten Umarmung. Stephen zitterte vor Schock, und Ashe verfluchte wieder einmal sich selbst und seinen Vater.
»Es tut mir Leid«, flüsterte er und drückte die breiten Schultern des Herzogs. »Ich hätte es dir gesagt, wenn es mir möglich gewesen wäre.«
»Möge der All-Gott mir verzeihen, weil ich seinen Segen verschmäht habe«, antwortete Stephen und gab die Umarmung zurück. Er löste den Griff von seinem Freund und ging durch das wabernde blaue Licht zu der Stelle, wo das Schwert lag. Er bückte sich, hob es auf und gab es Ashe zurück. Ashe nahm es an sich und steckte es in die Scheide, wodurch er das Licht wieder löschte.
»Komm mit mir in die Festung«, bat Stephen und drehte sich nach der dunklen Treppe um.
»Hier drinnen ist es so kalt wie in einer Hexenzitze. Wir setzen uns vor den Kamin und ...«
»Ich kann nicht, Stephen.«
»Musst du dich immer noch verstecken?«
»Meistens.« Ashe ging zurück in die Ecke und betrachtete wieder die Dinge auf dem Tisch. Rhapsody hatte sie einmal einen Schrein genannt; nun verstand er den Grund für diese Bezeichnung. Abgesehen von dem Altartuch und den Kerzen befanden sich hier die letzten Dinge, die er an jenem Tag bei sich gehabt hatte, als er dem Dämon gefolgt war: der goldene Siegelring, ein zerbeulter Dolch und das Armband, das Stephen ihm in seiner Jugend geschenkt hatte. Es bestand aus geflochtenen Lederbändern, die an einer Seite aufgerissen waren. An der Wand hinter dem Tisch hing ein Messingteller, der fein verziert und mit seinem Namen versehen war. Seine Drachensinne bemerkten, dass dieser Teller im Gegensatz zu den anderen im Museum nicht angelaufen war.
»Warum? Warum zeigst du dich mir jetzt?«
»Vielleicht weil heute mein Geburtstag ist«, meinte Ashe scherzhaft. Doch sein Lächeln löste sich zu etwas Dunklerem auf. »Ich verstecke mich nicht mehr so wie in den letzten zwanzig Jahren. Ich habe in dieser Zeit niemandem mein Gesieht gezeigt, Stephen, nicht einmal Llauron. Jetzt überlege ich sehr genau, wann und wem ich mich offenbare. Der Dämon sucht zweifellos noch immer nach mir. Ich will derjenige sein, der den Zeitpunkt auswählt, wenn ich entdeckt bin.«
»Ich erinnere mich daran, Berichte über deine Erscheinung gehört zu haben, einige sogar vor kurzer Zeit, aber ich habe sie als Gerüchte und Legenden abgetan.«
Ashe erzitterte. »Es war keins von beiden, fürchte ich. Aber ich war es nicht.«
»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«
»Deswegen bin ich heute Abend hergekommen. Jawohl.«
Zum ersten Mal lächelte Stephen. »Das glaube ich dir nicht«, sagte er gut gelaunt. »Du hast bloß gehofft, ein Stück vom Geburtstagskuchen und ein gutes Tröpfchen zu schnorren. Komm, ich bringe dich unbemerkt in die Festung. Wir können durch die Stallungen zum Weinkeller gehen. Vielleicht finden wir auf dem Weg etwas, womit wir deinen Geburtstag feiern können.«
31
Rhapsody spürte ihre Füße nicht mehr. Der beißende Schnee hatte sie völlig betäubt. Wie viele Tage und Nächte sie bereits hier draußen war, wusste sie schon nicht mehr. Sie wusste nur, dass ihre Kraft verebbte und ihr Ziel nirgendwo in Sicht war. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie sich befand.
Der Wind umkreischte sie, und der Wald dehnte sich unendlich vor ihr aus. Baumgruppen und Unterholz verschmolzen zu gleichartigen Bäumen und Büschen, bis die Landschaft in einem weißen Wirbel aus krank machender Verwirrung verschwamm. Rhapsody war erschöpft und hatte sich verirrt.
Sie versuchte, ihren Standort durch die Sternbilder zu bestimmen, wie ihr Großvater es ihr beigebracht hatte, doch die Sterne wären ihr fremd gewesen, selbst wenn sie sie durch den heraufziehenden, alle Sicht nehmenden Sturm hätte erkennen können. Der Gladiator versuchte nicht einmal mehr aufzuwachen; sie dehnte all ihre schwindende Feuergabe auf ihn aus, damit er auf dem Pferderücken nicht erfror.
Schließlich konnte sie nicht mehr weitergehen. Sie sank im Schnee auf die Knie; die scharfe Eiskruste stach ihr in die Beine. Die Haare flatterten im Wind, und sie beobachtete ihren Tanz vor den Augen. Sie waren wie Zweige eines goldenen Baumes, der sich in demselben Wind wiegte wie die peitschenden Arme des Waldes. Der Wind biss ihr in die Ohren; sein Heulen war ein fließender Ton, der von Schlaf und dunklen Träumen sang. Und von etwas anderem. Es lag Macht im Wind Macht, die sie erkannte.
Dann fiel er ihr ein der Blutsverwandtenruf, den Oelendra ihr beigebracht hatte. Rhapsody rollte sich zusammen, legte den Kopf auf die Schenkel und versuchte, das eindringliche Kreischen um sie herum auszublenden. Ihr Atem schenkte ihr keine Wärme mehr. Sie steckte die Hände unter die Arme, damit sie sich konzentrieren konnte, und suchte in dem Geheul und Gebrüll nach dem einzelnen Ton, die ihren Hilfeschrei zu den Brüdern des Windes tragen würde. Schließlich fand sie ihn; es war der klare, ruhige Ton unter all dem Aufruhr, der beständig summte, während der Wind aufbrauste und abebbte.
»Beim Stern«, flüsterte sie mit einer Stimme, die vor Kälte brüchig war, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Sturm um sie herum wurde unmerklich schwächer, und der stille Ton klang nun ehrlicher. Rhapsody nahm all ihre Stärke zusammen.
»Beim Stern«, sang sie erneut mit den Worten ihres Geburtsortes und in der Sprache ihrer Kindheit, wobei sie beständig lauter wurde, »werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Der Ton klang jetzt klar und hell und sank schließlich zu einem summenden Atmen herab, kleidete sich in den Wind und verschwand in der Nacht.
Rhapsody lauschte ihm, als er verwehte, und betete, die Hilfe möge eintreffen, doch ihr Herz erinnerte sie daran, dass der Stern, bei dem sie geschworen hatte, nun den Himmel über dem Meer in einer anderen Welt erhellte. Der Ort, an dem der Wind lebte, der den Ruf der Verwandten beantwortet hatte, war schon lange unter den Wellen verschwunden. Doch vielleicht würde Oelendra ihn hören. Nur um sicher zu sein, sang sie den Namen ihrer Lehrerin und schickte ihr sowie den Kindern und Freunden Liebesbotschaften. Ashe erwähnte sie dabei nicht, denn sie hatte Angst, er könne kommen.