»Ich erinnere mich. Ich habe Wache für den Patriarchen geschoben, wie wir vom wahren
Glauben es in der ersten Nacht des Sommers zu tun pflegen. Vielleicht erkennst du jetzt endlich den Irrtum deines Lebens und bekehrst dich.«
Der Scherz lockerte den Griff, mit dem die Erinnerungen Ashe gepackt hatten, und er lachte.
»In Ordnung. Ich war zum Haus der Erinnerung gegangen, weil ich ein Gespräch meines Vaters mit Oelendra über den F’dor mit angehört hatte. Irgendwie waren sie der Meinung gewesen, er befinde sich dort und sei verwundbar; also wollte Oelendra ihn vernichten. Als sie den Baumpalast verlassen hatte, ging ich zu Llauron und sagte ihm, ich stünde bereit, ihr zu helfen.
Zuerst wollte er nichts davon hören, aber ich vermute, er sah schließlich die Weisheit dieses Gedankens ein. Es gab sonst niemanden, dem er vertrauen konnte. Er ... wir haben dieses Ding gejagt, so lange ich denken kann. Es war das alles verzehrende Ziel seines und daher auch meines Lebens.«
»Ich erinnere mich«, sagte Stephen sanft und betrachtete die Decke des Weinkellers. »Als ich mit Oelendra loszog, warnte Llauron mich, ich solle nicht Meister auf ihrem Gebiet werden wollen, denn er hatte vor, mich selbst auszubilden.«
»Mein Vater glaubt, dass jeder nur lebt, um seinen eigenen Zwecken zu dienen«, murmelte Ashe. »Selbst wenn seine Ziele hehr sind, ermüdet es manchmal, immer nur als Werkzeug angesehen zu werden. Auch wenn er es mir verboten hätte, wäre ich gegangen. Du hast mich gekannt; ich war kühn und stur und hatte nichts, wofür zu leben sich lohnte.«
Stephen warf Ashe einen raschen Blick zu. »Hast du es jetzt?«
Ashe seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich habe es geglaubt.« Seine Gedanken wanderten zu Rhapsody und dem vernichtenden Feuer in ihren Augen, das sie beim letzten Abschied hinter einer tapferen Miene verborgen hatte.
Ich bewahre die Erinnerung für dich, Aria. Eines Tages werden wir sie wieder miteinander teilen können.
Nein. Vielleicht gehört sie eines Tages wieder mir, aber für dich ist es Zeit, mit jemand anderem neue Erinnerungen zu beginnen.
Morgen. Jetzt bin ich noch hier bei dir.
Er schloss die Augen und vertrieb die Gedanken. »Danach erinnere ich mich an vieles nicht mehr. Ich bin Oelendras Route zum Haus der Erinnerung gefolgt. Es ist kaum möglich, diese Frau aufzuspüren.« Stephen nickte. »Ich habe sie nicht gefunden. Als ich zum äußeren Tor des Hauses kam, war niemand dort; alles war totenstill. Es war schon nach Mitternacht und die Sonnenwende vorbei. Damals hatte ich das noch nicht gewusst, aber es bedeutete, dass auch die Zeit der Verwundbarkeit des Dämons vorüber war.
Ich erinnere mich nicht daran, den F’dor oder was immer es war, getroffen zu haben. Alles war dunkel. Ich erinnere mich nur an eine Explosion dunklen Feuers und an die schrecklichsten Schmerzen, die ich je erlitten habe Schmerzen, die nur der Tod stillen konnte. Und dann nahm mir das Wesen ein Stück von meiner Seele. Es griff in mich hinein und breitete sich in mir wie ein Schlinggewächs aus, das an meinem Rückgrat hochrankte, bis es sich in meinem ganzen Brustkorb festgesetzt hatte und mein Innerstes packte.« Obwohl er die Augen geschlossen hielt, bemerkte er, wie Stephen erschauerte.
»In diesem Augenblick hätte ich den Tod dem vorgezogen, was gerade mit mir geschah. Ich spürte den Willen des Geschöpfes. Es wollte mich haben als Wirt. Es wollte meine Seele fressen und zu dem werden, was von mir übrig blieb. Ich habe die Leere gesehen, Stephen.
Ich habe sie gesehen. Und irgendwie ist es mir gelungen, das Schlinggewächs mit Kirsdarke zu durchschneiden, wenngleich ich wusste, dass ich damit ein Stück meiner Seele in seiner Gewalt zurücklassen würde. Es war das Einzige, was ich tun konnte.«
»Gütiger All-Gott!«
»Und das ist alles. Ansonsten erinnere ich mich nur noch an Lichtblitze und Bruchstücke, die in meinen Träumen zu mir gekommen sind. Ich erinnere mich daran, wie ich durch den Wald auf Haguefort zugekrochen bin; es war meine bewusste Entscheidung gewesen, deine Hilfe zu suchen. Ich habe oft von deinem Gesicht geträumt, als du mich in deinen Mantel gewickelt hast, obwohl ich mir nicht sicher bin, was Erinnerung und was Einbildung ist. Vieles aus dieser Zeit ist nur verschwommener Traum, begleitet von unerträglichen Schmerzen.«
»Was geschah, nachdem ich dich verlassen und nach deinem Vater gesucht hatte?«
Ashe zögerte. Obwohl ihm sein Herz sagte, dass Stephen vertrauenswürdig war, flüsterte ihm der Drache Zweifel ein, so wie er es bei Anborn getan hatte.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich war gesund genug, um mich zu verstecken, auch wenn die Schmerzen kaum nachgelassen hatten. Seelenschmerz übersteigt alles, was du dir vorstellen kannst.«
»Hast du noch immer Schmerzen?«
Ashe nahm einen tiefen Schluck von dem ausgezeichneten Branntwein und legte dann die Arme auf die Knie. »Es ist jetzt besser«, sagte er schließlich.
»Aber die Schmerzen waren nicht das Schlimmste.
Der F’dor hat das zurückgelassene Stück meiner Seele dazu benutzt, den Rakshas zu formen, ein dämonisches Geschöpf aus seinem eigenen Blut und dem wilder Tiere. Es erhielt mein Seelenbruchstück, meinen Geist und sah beinahe genauso aus wie ich. Es war geistlos und intelligent zugleich und stellte lange Zeit für den Dämon ein machtvolles Werkzeug dar. Über Roland und Tyrian hat er Tod und Verwüstung gebracht. Ich weiß das, weil ich so viel Zeit wie möglich damit verbracht habe, ihn aufzuspüren und einiges von dem wieder gutzumachen, was er angerichtet hatte, sowie für Llauron seine Bewegungen auszuspionieren. Es war dieses Geschöpf, das die Kinder deiner Provinz entführt und ihr Blut zum Nutzen des F’dor genommen hat.«
Stephen stand auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, während er noch immer die Flasche hielt. »Ich werde dieses Wesen töten, das schwöre ich«, sagte er und lief auf und ab.
Ashe lächelte. »Nicht nötig, das ist schon geschehen.«
»Und deine Seele?«
»Ist wieder ganz.«
»Dem All-Gott sei Dank.« Stephen lief immer schneller auf und ab; seine rasende Aufregung suchte nach einem Ventil. »Wie kann ich dir helfen?«
Ashe stand ebenfalls auf und ergriff seine Schultern. »Behalte mein Geheimnis für dich.« Er lächelte seinen besten Freund an. »Und zeige mir meinen Namensvetter und seine Schwester.«
»Abgemacht.« Stephen warf die Flasche beiseite und führte ihn den dunklen Gang hoch zur Festung.
»Bist du sicher, dass sie schläft? Ich will ihr keine Angst einjagen. Mit meiner Kapuze sehe ich aus wie der Inbegriff eines Albtraums.«
»Ihr Schlaf ist tiefer als das Meer«, sagte Stephen zärtlich und fuhr liebevoll mit den Fingern durch Melisandes goldene Locken. »Und ohne Kapuze siehst du genauso aus. Das war schon immer so.« Er küsste die Stirn des Mädchens und zog ihr das Laken bis zum Hals. Melisande lächelte, bewegte sich aber nicht.
»Sie ist wunderschön, Stephen.«
»Ja, das ist sie. Sie hat die schwarzen Augen ihrer Mutter. Es tut mir Leid, dass du sie nicht in wachem Zustand sehen kannst.«
»Wer war ihre Mutter?«
»Lydia von Yarim.«
Ashe kicherte. »Ah ja. Gute Wahl.« Seine Stimme wurde wieder sanft. »Es tut mir Leid, Stephen.«
»Das sollte es dir auch. Sie hätte dir gefallen, Gwydion.«
»Eine außergewöhnliche Frau. Eine sehr außergewöhnliche Frau.« In die Wärme von Ashes Stimme hatte sich eine Spur Melancholie gemischt. »Dein Sohn ist schon so groß. Ich habe viele Jahre verpasst; er ist beinahe ein Mann.«
Stephen seufzte zustimmend und streckte die Hand durch einen Vorhang aus Nebel, der in der Luft des dunklen Raumes schwebte. »Woher kommt er?«
Sag es ihm nicht, zischte der Drache. »Von Kirsdarke«, meinte Ashe rasch und drängte die Wyrm-Stimme zurück. »Er umgibt meinen Umhang mit der Macht des Wassers. Er schützt mich vor jenen, die mich durch Schwingungen oder ähnliche Methoden finden könnten.«