Kurz darauf nahm Grunthor seinen Helm ab, kratzte sich am Kopf und fuhr sich mit den sauber manikürten Händen durch die dichten Haare.
»Was hältst du denn davon? Was denkst du?«
Achmed hielt das Ölpapier vor das Feuer und las die Worte noch einmal. Dabei beobachtete er, wie die Flammen hinter dem Papier zitterten; ihre Farbe und Stärke war gedämpft. Schließlich sprach er.
»Dass ich mich in Llauron geirrt habe.« Er warf das Ölpapier ins Feuer, wo es hell aufloderte und in einer Wolke beißenden Rauchs verschwand.
Grunthor wartete geduldig, als sich Achmed in einen Sessel vor dem Kamin fallen ließ und die Fingerspitzen an die Lippen legte. Der König starrte in das Feuer, als wollte er ihm seine Geheimnisse entreißen.
»Llauron ist nicht der F’dor«, sagte er.
»Woher weißt du das?«
»Rhapsody hätte so etwas nie zu Llauron gesagt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt etwas von dieser Nachricht weiß. Die Geschichte über diese Krankheit und die Schwächung des Heeres ist natürlich eine Lüge, und Rhapsody lügt nie. Diese Botschaft ist sowohl an sie wie an mich gerichtet; es liegt eine verschlüsselte Mitteilung darin.«
Der Sergeant nickte. »Weißt du, was es ist?«
Achmeds Stirn legte sich über dem Schleier in Falten. »Ich glaube ja. Llauron hat diese Lüge aus einem guten Grund verbreitet; er glaubt selbst nicht an sie. Das ist seine Art, mir mitzuteilen, was er getan hat. Wenn er der F’dor wäre, hätte er mir niemals diese Botschaft geschickt.« Grunthor nickte, als Achmed sich nach vorn beugte und noch tiefer in das Feuer starrte. »Vielleicht versucht er, den F’dor aus seinem Versteck zu locken, indem er die Nachricht verbreitet, die Bolg seien verwundbar. Das würde den Teil mit der Schwächung des Heeres erklären.«
Grunthors Gesicht nahm in den flackernden Schatten einen ernsten Ausdruck an.
»Und du weißt, was das heißt.«
Dunkle Wut brannte in den Augen des Königs. »Ja. Er glaubt, der Wirt des F’dor sei in der Lage, einen Vorteil aus dieser Information zu ziehen. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich ihm dafür danken kann, dass er mein Königreich als Dämonenköder benutzt falls wir den Angriff überleben, der zweifellos in diesem Augenblick geplant wird.«
»Komm herein, Evans. Es ist unschicklich, in Eingängen zu lauern.«
Evans, Tristan Stewards ältlicher Ratgeber und Botschafter, hatte schon seit einiger Zeit in der Tür zum Speisezimmer des Herrscherpalastes gestanden. Er seufzte auf und durchquerte den großen Raum. Seine Schritte hallten von dem polierten Marmorboden laut gegen die hohen Scheiben der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster, die ein architektonisches Wahrzeichen des Palastes in Bethanias Hauptstadt waren. Das Licht aus dem Kamin warf lange Schatten, durch die er schnell und nachdenklich schritt.
Beim Klang der Stimme des Herzogs von Roland hatte er seinen Zorn heruntergeschluckt. Sie klang vom Wein berauscht und troff vor Selbstmitleid. Es war eine Klangfarbe, die er in den letzten Wochen nur allzu oft gehört hatte. Evans war sich nicht sicher, ob der Herrscher die tragische Wendung der Ereignisse auf dem Winterfest betrauerte, unter dem extremen Druck des kürzlich übernommenen Oberbefehls über die orlandischen Truppen litt oder nur in Panik angesichts seiner bald bevorstehenden Hochzeit geraten war, doch all diese Umstände stellten eine ausreichende Entschuldigung dar.
Dieser Mann war schließlich mit Madeleine verlobt, dem Biest von Canderre. In Botschafterkreisen lief der Witz um, Cedric Canderre brenne seine guten, starken Tropfen nur deshalb, weil er sicherstellen wolle, dass eines Tages jemand betrunken genug war, um seine Tochter zu heiraten. Tristan muss ein ganzes Fass getrunken haben, hatte Bois de Berne, der anvonderrische Botschafter, scherzhaft gesagt, als die Verlobung bekannt gegeben worden war. Evans erinnerte sich, wie er darüber gelacht hatte, doch jetzt war ihm beim Klang von Tristans Stimme und angesichts all der Ereignisse seit jenen Tagen nur noch zum Weinen zumute.
»Ich dachte, Ihr wollt das hier sehen, mein Herzog«, sagte er, während er sich dem Tisch des Herrschers näherte und bemerkte, dass Tristan sein Abendessen kaum angerührt hatte, obgleich die Branntweinkaraffe neben seinem Glas leer war. »Es wurde bei Sonnenuntergang von einem der Bogenschützen auf dem westlichen inneren Turm in der Fußkapsel eines Botenvogels entdeckt, der sehr wahrscheinlich in einen der letzten Stürme geraten ist und sich verflogen hat.«
Tristan starrte in das Glas, schwenkte den letzten Rest Branntwein und beobachtete, wie das Licht des Feuers den reich geschnitzten Esstisch umtanzte. Er seufzte, als Evans ihm das Ölpapier entgegen hielt, hob das Glas und spülte den Branntwein hinunter, bevor er die Hand nach dem Papier ausstreckte.
Evans sah zu, wie die Miene des Herrschers von Roland sich veränderte, als die Schatten während des Lesens über sein Gesicht glitten. Erst war es Verwirrung, dann Entsetzen, das sich zu Verwunderung wandelte, und schließlich eine beinahe manische Freude. Evans rieb sich die Arme, um die plötzliche Kälte zu vertreiben, die ihn überkam, als der Prinz das Ölpapier niederlegte, den Kopf zurückwarf und brüllend lachte. In der Dunkelheit seiner Studierstube hörte der heilige Mann den Herzog von Roland lachen. Er wusste nicht, ob dieser Laut durch den Wind, das Herdfeuer oder nur durch die Tiefen seines Geistes, in denen er und Tristan miteinander verbunden waren, zu ihm getragen wurde, doch er hörte ihn so klar und deutlich wie das Knistern der Flammen.
Er wusste nicht, warum der Prinz lachte, doch die Blutlust unter der fröhlichen Oberfläche erfreute ihn gewaltig.
35
Der Fluss, der von dem Wasserfall ausging, war eisverkrustet und vom Schnee gefleckt. Ashe kniete am Ufer zwischen den Zweigen der kahlen Holzapfelbäume nieder und verlor sich in seinen Gedanken. Er war hergekommen, um im klaren Wasser dieses Ortes von seinem Schwert das Blut abzuwaschen, das er als sein eigenes ansah, doch jetzt bereute er die Entscheidung. Es schien falsch und sogar selbstsüchtig zu sein, das eisige Wasser und den makellosen Schnee mit dem Blut zu beschmutzen, das er seit seinem letzten Kampf in den sanften Wäldern des nördlichen Navarne mit sich herumgetragen hatte.
Nachdem er Stephens Festung verlassen hatte, war er auf eine lirinsche Räuberbande gestoßen, die zwar klein an der Zahl, aber äußerst mordlüstern gewesen war. Die Einwohner des Walddorfes, die noch vom Massaker des Wintersonnenwendfestes gezeichnet waren, hatten einen guten Kampf geliefert und ihre Häuser mit Mistgabeln, Eggen und Sensen verteidigt. Ashe hatte das brennende Stroh der Dächer gerochen, welche die Lirin aus einer Entfernung von mehreren Meilen angezündet hatten, und seine Aufmerksamkeit und sein Schwert daher zuerst dem Schmelzen des Schnees zugewandt, der auf den schweren Zweigen der immergrünen Bäume gelastet hatte, in deren Schutz das Dorf lag. Kirsdarkes Klinge war zu blauweißen Flüssen geronnen, als er sie über den Kopf gehoben und dem Element des gefrorenen Wassers befohlen hatte, zu tauen und sich von den Bäumen zu ergießen, damit es das Feuer löschte.
Einen Moment lang hatten sowohl die Dorfbewohner als auch die Banditen in stiller Verwunderung dagestanden und ihn angestarrt, als wären sie von den Lichtwellen auf dem glitzernden Wasserschwert hypnotisiert worden. Doch kurz darauf hatte eine noch tiefere Besessenheit wieder die Herrschaft übernommen, und die Lirin waren mit ihren Verwüstungen Fortgefahren. Ashe war keine andere Wahl geblieben, als sich auf die Seite der Dorfbewohner zu schlagen, bis auch der letzte Lirin tot gewesen war. Er hatte sich von der klammernden Dankbarkeit freigemacht und war durch den Rauch davon getaumelt, bis er diesen Ort erreicht hatte, wo er das Grauen von seinem Schwert und seiner Seele abwaschen konnte.
Doch auch jetzt, als er neben dem Bach kniete, fühlte er sich unbehaglich.