»Ich verstehe, Herr.« Gerald Owen nahm die Flasche und den kleinen leeren Sack an sich, verneigte sich und verließ die Bibliothek.
Stephen seufzte, als sich die Tür schloss.
»Ich wünschte, ich würde es verstehen.«
38
Das Morgenlicht ergoss sich über den Wald und schien durch die Flocken des still fallenden Schnees. Überall im Wald war es ruhig, und das Fehlen jeglicher Geräusche schien mit jedem Schritt noch vollkommener zu werden. Manchmal jammerte eins der Kinder auf oder kicherte nervös, doch insgesamt spürten sie die schwere Stille in der Luft und ergaben sich ihr. Oelendra hielt an, und Rhapsody tat es ihr gleich, indem sie ihrer Stute leise zuschnalzte. Sie befanden sich in einer Waldlichtung, die in ihrer Erscheinung wenig bemerkenswert war. Zu allen Seiten hin erhob sich der dichte Wald, undurchdringlich für den Blick. Diesem Ort wohnte eine Feierlichkeit inne, eine tiefe und alte Melodie von Macht, die Rhapsody bis in die Knochen spürte. Sie sah ihre Freundin an.
Oelendra spähte angestrengt in den Wald, als versuchte sie, die Richtung auszumachen. Schließlich öffnete sie die Augen weiter und deutete auf einen Punkt in der Ferne.
»Da ist sie die Erle mit dem gespaltenen Stamm. Das war mein Orientierungspunkt.«
Rhapsody folgte Oelendras Geste mit dem Blick und sah ebenfalls den Baum. Sie nickte.
»Wie weit ist es von dort aus?«
Oelendra schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise; ihre Stimme war im Schweigen der Lichtung kaum mehr zu hören. »Du wirst gleich begreifen, was ich damit meine. Hier irgendwo gibt es eine Schleife in der Zeit. Ich habe sie vor jener Nacht schon tausendmal passiert und den Schleier des Hoen noch nie gesehen.«
Rhapsody nickte und schaute wieder in die Ferne. Der Schleier des Hoen, der cymrische Begriff für Freude, war der Eingang in das Reich des Fürsten und der Fürstin Rowan, jener Wesen, über die Oelendra ihr am ersten Abend ihrer Zusammenkunft erzählt hatte. Es war etwas Mystisches um diese legendären Gestalten, den Wächter der Träume und seine Gemahlin, die Bringerin des friedlichen Todes etwas, das Rhapsodys Verstehen überstieg. Wenn ihr jemand anderes als Oelendra die Geschichte von Ashes Errettung erzählt hätte, wäre sie geneigt gewesen, an einen verrückten Verstand oder eine Unmenge Bier zu glauben, doch Oelendra wog ihre Worte immer bedächtig ab und trug überdies den Ring des Wissens. Der Fürst und die Fürstin mischten sich nur ein und nahmen Gäste auf, wenn es um Leben und Tod ging. Sie schluckte und hoffte, die beiden würden diese Situation als ihrer Hilfe würdig befinden.
»Vielleicht ist der Eingang nur sichtbar, wenn man ihn wirklich braucht«, meinte sie und klopfte der Stute auf die Flanke.
Oelendra zuckte die Achseln. »Vielleicht«, sagte sie, kniff die Augen zusammen und schaute wieder in den Wald. Dann drehte sie sich um und packte Rhapsody an den Schultern. »Etwas musst du bedenken. Die Zeit vergeht dort nicht so wie hier. Ich war ein paar Stunden in ihrem Reich, vielleicht auch Tage, als sie an Gwydion gearbeitet haben.« Eine Wolke flog über ihre silbernen Augen, oder vielleicht war es auch nur die Ironie der Erinnerung. Oelendra hatte die Nachricht vom Überleben Ashes mit ernstem Schweigen aufgenommen, als Rhapsody nach Tyrian zurückgekehrt und sie um ihre Hilfe bei den Kindern des F’dor gebeten hatte. Sie hatte sich oft gefragt, was die lirinsche Kriegerin dachte, doch Oelendra teilte diese Gedanken nicht mit Rhapsody. »Als er ... nachdem ich nichts mehr tun konnte und Fürst Rowan mich zurückschickte, hatte sich seit dem Moment, als ich hinter den Schleier getreten war, nichts geändert, Rhapsody. Mein Sattel war noch warm. Du bleibst vielleicht eine lange Zeit, Monate oder möglicherweise Jahre, aber wenn du zurückkehrst, ist es vielleicht nur einen Augenblick später als bei deinem Weggang. Es könnte schwierig für dich werden, deinen Platz in der Zeit wieder zu finden.«
Rhapsody strich ihr über die Hand. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ich weiß, an wen ich mich zuerst um Hilfe wende, wenn ich mich verirre.«
Zum ersten Mal, seit sie den Wald betreten hatten, lächelte Oelendra. »Nun, das ist eine Lektion, die du gut gelernt hast. Meine Tür steht immer offen für dich, meine Liebste. Mein Heim ist dein Heim. Und jetzt werde ich hier mit den Kindern und mit ihm warten.« Sie deutete auf den Gladiator, der gegen den Sattel des Rotschimmels gelehnt saß; seine Augen waren trübe von den betäubenden Kräutern. »Ich hoffe, du findest sie.«
Rhapsody schluckte schwer. Sie hatte nicht daran zu denken gewagt, was geschehen würde, wenn sie versagte. Langsam zog sie die Tagessternfanfare und hielt sie vor sich. Sie beobachtete, wie die wispernden Flammen über die Klinge zuckten, die im Licht der Sterne leuchtete. Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch das Feuer und spürte den summenden Puls auf der Haut. Bei ihrer Berührung sprangen die Flammen hoch und zischten auf, beruhigten sich aber kurz darauf in einem Windstoß. Mit einem entschiedenen Stoß rammte sie das Schwert in den Schnee, damit es ihr als Orientierungszeichen diente, und ging los, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Der Weg durch den knöcheltiefen Schnee schien ihr sehr lang zu sein. Sie hinterließ beinahe keine Spuren. Hier wehte der Wind nur sanft, und die Brise war trotz des tiefen Winters warm. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin sie ging, und kaum wusste, woher sie kam, hatte Rhapsody nicht den Eindruck, sich verirrt zu haben. Sie schloss die Augen und trank das Lied des Waldes, das tiefer und feierlicher als das Lied von Tyrian war, welches sie inzwischen so gut kannte.
Das Lied erklang im Westen lauter. Sie folgte ihm blindlings und hielt die Hände vor sich ausgestreckt. Es war eine tiefe, warme Melodie, wie der Gesang der Arbeiter in den Eingeweiden der Berge, oder wie die Erde selbst, so wie Rhapsody sie gehört hatte, als sie entlang der Wurzel gewandert war. Das Lied wallte im Wind und wurde in der einen Richtung immer stärker. Rhapsody drehte sich ihr zu und öffnete die Augen. Die Luft vor ihr und überall um sie herum war in Nebel gehüllt, der dick vor silbernem Dampf war. Die Tröpfchen funkelten in der Luft und warfen das Licht der aufgehenden Sonne zurück. Es war, als stünde sie in einer Wolke; Himmel und Wald waren nicht mehr zu sehen. Sie streckte eine Hand aus und wollte den Dunst fortwischen, aber er bewegte sich nicht, sondern hing weiterhin schwer in der Luft wie Regen, den die Zeit gefroren hatte. Rhapsody wanderte eine Weile weiter und versuchte die andere Seite des nebligen Schleiers zu finden, doch der Dunst war allgegenwärtig und undurchdringlich. Sie rief im Abstand von wenigen Minuten, hörte aber nichts; keine Stimme, kein Vogelgesang antwortete ihr. Es wurde schwierig, die Richtung beizubehalten, und bald war es ihr nicht mehr möglich. Nun befürchtete sie doch, sich zu verirren. Schließlich seufzte sie auf; der Laut wurde von den dichten Nebelschwaden geschluckt. Sie drehte sich um zu Oelendra und den Kindern. Nach einigen Minuten erkannte Rhapsody sie am Rande ihres Blickfeldes, wie sie sich in einem fernen Teil des Nebels auf den Pferden und um sie herum zusammendrängten. Rhapsody beschleunigte ihre Schritte und watete durch den Schnee, bis sie einen klareren Blick auf die Gruppe hatte. Sie blieb abrupt stehen.
Die Kinder des Dämons waren so, wie Rhapsody sie verlassen hatte. Doch die Person, welche die Zügel hielt, war nicht Oelendra, sondern eine kleine, blasse Frau mit Haaren, die so weiß und silbern wie der Nebel waren. Sie trug eine schlichte weiße Robe. Sie lächelte und hielt Rhapsody die Zügel der Stute entgegen. Rhapsody ergriff sie wie in Trance. Dann drehte sich die Frau um und ging in den dichter werdenden Nebel hinein. Einen Moment später schüttelte Rhapsody den Kopf, als wollte sie den Schlaf vertreiben, und folgte der Frau. Dabei führte sie das Pferd und die Kinder ebenfalls in den Dunst.