Nach langer Zeit löste sich der Nebel endlich auf. Zuerst bemerkte Rhapsody es gar nicht. Sie war zu sehr damit beschäftigt, der Frau in Weiß zu folgen, doch schließlich erkannte sie hier und da einige Bäume, dann Waldstücke, bis schließlich der Nebel wie Rauch in der Wärme der Sonne verdampfte, die nun hoch am Himmel über ihnen stand. Rhapsody fand sich in einem Wald wieder, der dem von Tyrian nicht unähnlich war, aber es war Frühling oder Frühsommer. Der Boden war grün, genau wie die Blätter und die neuen Schösslinge der Bäume, bei denen es sich hauptsächlich um Weißbirken, Eschen, Silberahorn und blasse Buchen handelte, deren elfenbeinfarbene Rinde dem Wald ein unweltliches Aussehen verliehen.
Die Kinder, die bis dahin still gewesen waren, redeten nun leise miteinander, dann lachten sie, und schließlich rannten sie umher und genossen die Sonne. Es schien so, als wäre ein gewaltiges Gewicht von ihnen genommen. Nun fühlten sie sich, als könnten sie fliegen, und sie versuchten es, indem sie die Arme ausbreiteten, zwischen den Bäumen umhertollten und kleine Hügel hochrannten, herumsprangen und kicherten.
Rhapsody lächelte, als sie die Kinder ansah und dabei den Blick der Fürstin auffing, die sie eingehend beobachtet hatte. Sie errötete unter dem starren Blick, doch die Frau lächelte nun ebenfalls. Dann drehte sie sich zum dichteren Teil des Waldes um, und zwei junge Männer erschienen. Sie waren wie die Frau in weiße Gewänder gekleidet. Sie hoben den halb bewusstlosen Gladiator von dem Rotschimmel und führten ihn sowie das Pferd zu einer Siedlung aus kleinen Hütten, die Rhapsody erst jetzt bemerkte.
Rhapsody wollte sich wieder den Kindern zuwenden. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie waren verschwunden. Nur die Frau in Weiß war zurückgeblieben. Sie näherte sich der Sängerin langsam und mit ausgestreckten Händen. Rhapsody ergriff sie. Sie waren warm wie die ihrer Mutter, als diese ihr in der Zeit ihrer Kindheit vor dem Feuer die Haare gebürstet hatte. Schmerzen, die sie gar nicht mehr wahrgenommen hatte, verschwanden plötzlich gemeinsam mit den rauen, schwarzen Erfrierungen und ließen sie in einem Gefühl der Ruhe und Ganzheit, aber doch ein wenig benommen zurück. Die blasse Frau sprach. Ihre Stimme war wie das sanfte Säuseln des warmen Windes.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, es geht ihnen allen gut. Ich werde dir deinen Platz hier zeigen.« Sie führte Rhapsody an der Hand über einen niedrigen Hügel zu einer kleinen, strohgedeckten Hütte, wie sie auch in der Siedlung standen. Sie nickte in Richtung des Hauses. Rhapsody versuchte, ihren inneren Nebel wegzublinzeln.
»Aber was ist, wenn sie in der Nacht aufwachen und weinen?«, fragte sie. Sie hatte zuvor nicht einmal an diese Frage gedacht; es war, als ob sie unter Umgehung ihres Gehirns unmittelbar in ihren Mund geflossen wäre.
»Das werden sie nicht«, antwortete eine Stimme hinter ihr. Rhapsody drehte sich um und sah einen bleichen Mann, der die gleiche Art von Robe trug, allerdings in der Farbe der Nacht. Seine Augen waren pechschwarz und tief; Rhapsody spürte, dass sie in diese Augen hineinstürzen konnte. Sie waren von schwarzen Brauen überwölbt, die von schneeweißem Haar abgelöst wurden. Plötzlich erkannte sie, dass man ihr die Frage in den Mund gelegt hatte, damit sie die Antwort hören konnte. Sie spürte, wie die Betäubung wie ein wollener Umhang von ihren Schultern abglitt und sich ihr Verstand klärte.
»Vielen Dank dafür, dass Ihr sie hereingeholt habt, Fürst«, sagte sie. »Ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.«
»Gut«, sagte der Mann. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Sie brauchen deine Hilfe mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Komm, mein Kind«, sagte die Frau und lächelte. Sie streckte wieder die Hand aus. Rhapsody ergriff sie erneut und folgte der Fürstin Rowan tiefer in den friedlichen Wald hinein.
Das Reich der Rowans war allem Anschein nach ein heiteres. Die Kinder rannten umher und spielten im Sonnenschein. Ihre freudigen Stimmen kreischten, hallten durch den Wald und durchbrachen die Stille. Rhapsody sah den Gladiator nicht, doch alle anderen Kinder waren da und tollten zwischen den Bäumen herum, sogar Quan Li, das älteste Mädchen, das bisher sehr ernst und zurückhaltend gewesen war. Dieser Anblick erfreute Rhapsodys Herz. Sie spürte, wie eine Hand sie am Ellbogen berührte, und drehte sich um. Die Fürstin winkte ihr zu.
Sie erkletterten einen kleinen Hügel und blieben in einer Baumgruppe aus weißen Birken stehen. In dem Tal am Fuß des Hügels stand ein großes hölzernes Gebäude ohne jede Verzierung mit Ausnahme eines schlanken Holzturmes, der von einem silbernen Stern gekrönt wurde. Sie folgte der Fürstin den Hügel hinunter und in das Gebäude.
Drinnen war es dunkel und kühl. Von einer Rotunde zweigten etliche Türen ab. Die Fürstin öffnete eine gegenüber dem Eingang und wich zurück, damit Rhapsody eintreten konnte. Auch in diesem Raum war es dunkel. Viele Bienenwachskerzen lagen in Schachteln umher, und der minzige Geruch von Pipissewa, einem Kraut, das die Schmerzen der Sterbenden linderte, durchzog die Luft. Offene Beutel mit anderen medizinischen Kräutern, Wacholderbeeren und Schafsgarbe lagen auf einem Tisch; ihr Inhalt war zum Teil auf der Platte ausgestreut. In der Mitte des Raumes standen ein schlichtes Bett mit kurzen Beinen und mehrere Tische mit seltsam aussehenden Werkzeugen und Behältern. Die Fürstin bot ihr eine Kerze an, und Rhapsody nahm sie in die Hand. Das Bienenwachs war weich und duftend; es in den Fingern zu halten hatte etwas Hypnotisches an sich. Sie streckte einen Finger aus, um es anzuzünden, doch die Fürstin schüttelte den Kopf.
»Noch nicht.« Rhapsody steckte den Finger schnell wieder in die Faust zurück. Die Fürstin lächelte beruhigend. »Bevor du die Kerze anzündest, musst du begreifen, dass es ein Versprechen ist.«
»Ein Versprechen?«
»Ja, und zwar eines, das du vielleicht nicht gern gibst.«
Rhapsody blinzelte. »Was ist das für ein Versprechen?«
»Komm, ich will es dir zeigen.« Die Fürstin verließ das Zimmer und öffnete die nächste Tür. Rhapsody sah einen identischen Raum, doch hier lag der schlafende Gladiator auf dem Bett. Sie drehte sich um und sah die Fürstin fragend an, die in Richtung des ältesten Dämonenkindes nickte. Rhapsody blickte Constantin wieder an.
»Bleib hier.« Fürstin Rowan betrat den Raum, beugte sich neben dem Bett nieder und berührte sanft die Stirn des Gladiators. Hinter sich hörte Rhapsody, wie die Tür des Hauses geöffnet wurde. Die beiden jungen Männer traten ein und gesellten sich zu der Fürstin neben Constantins Bett. Sie trugen einen Kristallbecher und einige scharfe Metallwerkzeuge sowie Glasröhrchen, deren Anblick Rhapsody gar nicht gefiel. Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch die Frage wurde sofort durch einen scharfen Blick der Fürstin Rowan erstickt.
Einen Moment später nahm die Fürstin den Männern die Instrumente ab und legte sie auf den Tisch neben dem Bett. Die Männer packten die Hände und Füße des Gladiators. Die Fürstin Rowan nickte ihren Gehilfen zu und wandte sich mit einer langen, ahlengleichen Nadel in der Hand zu Constantin. Unter Rhapsodys entsetzten Blicken trieb sie die Nadel in dessen Brust. Er erwachte unter Schmerzen und schrie auf.
Rhapsody versuchte in das Zimmer zu laufen, doch der Weg wurde ihr von einer unsichtbaren Kraft versperrt. Sie kämpfte machtlos dagegen an und schlug gegen den Türrahmen, verursachte jedoch keinerlei Geräusch. Sie schrie, aber auch ihr Mund gab keinen Laut von sich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als entsetzt zuzuschauen, wie sich Constantin in Qualen wand und seine Peiniger anbettelte aufzuhören. Tränen rannen ihm über das Gesicht und fanden bei Rhapsody einen Widerhall.
Das Verfahren schien endlos zu dauern. Schließlich aber hielt die Fürstin ein dünnes Glasröhrchen mit einer roten Flüssigkeit hoch, in der ein Strich aus Schwärze schwamm. Sie nickte den Gehilfen zu und entfernte die Nadel aus der Brust des Gladiators, wobei er noch einmal vor Schmerzen zuckte. Dann übergab sie das Röhrchen einem der Männer und verband sorgfältig die Brustwunde, wobei sie leise zu Constantin sprach, der schluchzend auf dem Bett lag. Rhapsodys Herz verkrampfte sich vor Sorge. Ein Schmerz, der so stark war, dass der Gladiator deswegen weinte, musste wirklich unerträglich sein, wenn sie Constantins Leben und Beruf in Betracht zog. Fürstin Rowan beugte sich zu ihm nieder und küsste ihn auf die Stirn. Das Zittern verschwand, und er fiel sofort wieder in tiefen Schlaf. Die Fürstin verließ das Zimmer, ergriff Rhapsody am Ellbogen und führte sie wieder in den leeren Raum. Die Sängern zitterte.