Fürst Rowan erschien links von ihr. Sowohl Rhapsody als auch Constantin schauten auf und bemerkten seine Gegenwart; dann senkte Constantin den Arm und drehte sich um. Dabei fuhr er mit den Lippen über ihr Haar.
»Ich werde dich haben«, flüsterte er. »Das verspreche ich dir.«
Als er fortging, spürte Rhapsody, wie ihre Stimme zurückkehrte. »Constantin?«
Er sah zu ihr. In ihren Augen lag nicht die geringste Angst, und ihre Miene war wieder ruhig.
»Du könntest Recht haben«, sagte sie unverblümt. »Aber wenn es so ist, dann nur, weil wir beide es wollen. Hast du mich verstanden?«
Er starrte sie einen Augenblick lang an, dann ging er.
Rhapsody spürte, wie eine warme Hand sie an der Schulter berührte. Nun durchfuhr sie ein Friede, den sie nie zuvor gespürt hatte, und erfüllte sie mit einem großen Verlangen nach Schlaf.
»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Kind?«, fragte Fürst Rowan. Seine Stimme war so seidig wie warmer Wein.
»Ja, Fürst«, erwiderte sie und drehte sich nach ihm um.
»Ich werde mit ihm reden.«
Rhapsody öffnete den Mund, um die Lage zu erklären. Doch dabei spürte sie, wie die Angst vor der Zukunft zurückkehrte die scheußliche Angst davor, dazu verdammt zu sein, denselben Fehler bis in alle Ewigkeit wiederholen und für alle Zeiten die Auswirkungen ihrer Taten beobachten zu müssen. Erschöpfung überkam sie, als Ashes Worte aus fernen Tagen zu ihr zurückkehrten: Du wirst niemals sterben. Stell dir vor, wie es ist, immer wieder Menschen zu verlieren, deine Geliebten, deinen Mann, deine Kinder. Rhapsody fühlte sich so müde wie noch nie. Sie blickte in das ernste Gesicht Fürst Rowans, und ungerufene Tränen quollen tief aus ihrem Innern hervor.
»Warum weinst du?«
»Es ist nicht wichtig«, antwortete Rhapsody und schaute in Rowans schwarze Augen. »Fürst Rowan, werdet Ihr mir einen Gefallen tun? Bitte.«
»Was wünschst du von mir?«
»Dass Ihr mich eines Tages zu Euch holt. Bitte.«
Das ernste Gesicht wurde vom Flackern eines Lächelns erhellt. »Faszinierend«, murmelte er.
»Für gewöhnlich werde ich nur gebeten, fernzubleiben, auch wenn du nicht die erste Cymrerin bist, die um meinen Beistand bittet. Du bist aber die Erste, die in der Blüte der Jahre steht.«
»Bitte, Fürst«, beharrte Rhapsody. »Bitte sagt, dass Ihr mich eines Tages zu Euch nehmt.«
Fürst Rowan betrachtete sie einen Moment lang. »Ich werde es tun, wenn ich es vermag, mein Kind. Das ist das einzige Versprechen, das ich dir geben kann.«
Rhapsody lächelte durch ihre Tränen. »Das reicht«, sagte sie nur. »Vielen Dank.«
40
Die Abendschatten wurden länger in dem friedlichen Wald. Rhapsody blieb vor der Tür der kleinen Hütte stehen, atmete tief durch und versuchte ruhig zu bleiben. Dann klopfte sie.
»Herein.«
Sie erzitterte unter der Erinnerung, die dieses Wort und Constantins tiefe Stimme bei ihr hervorriefen. Langsam öffnete sie die Tür.
Der frühere Gladiator saß auf dem Bett. Als er sie sah, stand er sofort auf und durchquerte das Zimmer bis zur Tür. Rhapsody schluckte nervös, als sie die Geschwindigkeit bemerkte, mit der er sich bewegte. Es war kein Wunder, dass er in der Arena als tödlicher Gegner gefürchtet gewesen war. Er stellte sich zwischen sie und den Rest des Zimmers, füllte beinahe den ganzen Türrahmen aus und sah sie mit einem durchdringenden Blick an.
»Was willst du?«, fragte er barsch.
Rhapsody lächelte und hoffte, seine Feindseligkeit und sein Misstrauen zerstreuen zu können.
»Ich habe etwas, von dem ich glaube, dass es dir gehört.«
Seine Augen verengten sich. »Das glaube ich kaum.« An seinem Gesichtsausdruck erkannte Rhapsody, dass er eine Unterredung mit Fürst Rowan gehabt hatte.
»Ich werde dich nicht lange belästigen«, sagte sie kess. »Darf ich hereinkommen?«
Constantin starrte einen Moment lang auf sie herunter, hielt ihr dann die Tür auf und machte ihr ein wenig Platz. Rhapsody ging unter seinem Arm hindurch und betrat das Zimmer. Es glich dem der anderen Kinder, hatte aber keine Verzierungen oder Ausschmückungen. Es sah in der Tat ziemlich genau wie ihr eigenes aus; nur das Bett und die Möbel waren viel größer.
Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Constantin sah sie fest an, senkte dann den Blick und lächelte in sich hinein. Er beobachtete unter den Lidern hindurch, wie sie in den kleinen Beutel griff, den sie bei sich hatte. Rhapsody zog die silberne Kette hervor, die sie in seinen Gemächern gefunden hatte, und hielt sie ihm entgegen.
»Gehört das dir?«
Constantin riss entsetzt die Augen auf; ein Ausdruck der Panik legte sich über sein Gesicht. Er verschwand so schnell, wie er gekommen war, und wurde wieder durch das vertraute Starren ersetzt.
»Woher hast du das?«
»Ich habe es in jener Nacht unter deinem Bett gefunden.«
Sein Gesicht verfärbte sich schwarz vor Wut. »Und jetzt hast du vor, es mir zu verkaufen.«
Rhapsody öffnete den Mund vor Überraschung. »Nein, ich dachte...«
»Natürlich habe ich hier nichts von Wert, womit ich dich bezahlen könnte«, sagte er. Seine Muskeln spannten sich unter der mühsamen Selbstbeherrschung. Er wich vor ihr zurück. Rhapsody betrachtete ihn mit Mitgefühl. Sie wusste, dass seine Gefühle heftig waren, und sie sah, wie sehr er darum kämpfte, sie unter Kontrolle zu halten.
»Du verstehst mich nicht«, sagte sie gelassen. »Ich wollte es dir zurückgeben.«
Constantin beäugte sie misstrauisch. »Was hättest du davon?«
Rhapsody runzelte die Stirn. »Nichts. Sollte ich etwas davon haben? Wenn das hier dir gehört, hast du einen Anspruch darauf, Constantin. Hier musst du nicht um das kämpfen, was dir gehört; wir sind nicht mehr in Sorbold.«
»Warum hast du es dann überhaupt gestohlen?«
Rhapsody schluckte die Beleidigung herunter. »Ich habe es nicht gestohlen«, sagte sie so freundlich wie möglich. »Ich wollte es dir geben, weil ich geglaubt habe, es bedeute dir viel. Ich hatte nicht vor, dich je zu den Gladiatoren zurückzubringen, also habe ich das mitgenommen, was du möglicherweise behalten wolltest.«
Sie stand auf und ging hinüber zu ihm, ergriff seine Hand und legte die Kette hinein. Dann schloss sie seine Finger darum.
Constantin sah auf die Kette in seiner Hand. Sein Blick verlor ein wenig von der Eindringlichkeit, die er kurz zuvor noch gehabt hatte, und wurde von einem tieferen, schwer zu deutenden Ausdruck ersetzt. Er starrte das Schmuckstück lange an und sah dann wieder zu Rhapsody.
»Vielen Dank«, sagte er. Seine Stimme klang außergewöhnlich ruhig.
Sie nickte. »Nichts zu danken. Und jetzt gehe ich dir aus dem Weg.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür.
»Du hast Recht«, sagte er schnell. Sie wandte sich ihm überrascht zu, denn sie hatte geglaubt, ihr Gespräch sei zu Ende gewesen.
»Womit?«
Er senkte kurz den Blick. »Das hier ist etwas, das ich brauche und bei mir haben will.« So nahe an eine richtige Unterhaltung war er noch nie herangekommen. Rhapsody spürte, dass er fortfahren wollte. Sie schloss die Tür, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen das Holz.
»War es ein Geschenk von einer besonderen Person?«
Constantin sah sie an; sie gewöhnte sich allmählich an seinen verwirrenden Blick. Dann ging er zum Bett und setzte sich.
»Ja«, sagte er. »Von meiner Mutter.«
Es dauerte einen Moment, bis Rhapsody bemerkte, dass ihr Mund offen stand. »Du hast deine Mutter gekannt?«
Der Gladiator schüttelte den Kopf; das durch das Fenster hereinfallende Sonnenlicht fing sich in seinem hellblonden Haar und machte für einen Augenblick einen goldenen Brand daraus.
»Nein. Alles, was ich habe, ist ein Erinnerungsfetzen, von dem ich nicht einmal weiß, ob er echt ist.«
Sie trat an das Bett und setzte sich neben ihn; er regte sich nicht, wie er es wohl getan hätte, wenn ihm ihre Nähe unangenehm gewesen wäre. »Was ist es, wenn ich fragen darf?«