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Er versuchte sich zu erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war, doch das Bild in seinem schwachen Verstand war undeutlich und schmerzlich. Faron dachte daran zurück, wie er vor dem Wagen in eine Art Schlinge gelegt worden war und zu ertrinken gefürchtet hatte, als man ihn in den Tank geworfen hatte, doch alles andere war unklar für ihn.

Er schlug hilflos gegen das Glas und drückte die gebogenen Hände in sinnloser Anstrengung gegen die Leinwanddecke. Nach wenigen Augenblicken gab er erschöpft auf. Wenigstens befand er sich nicht mehr unter der sengenden Sonne, sondern durfte Wasser ohne Salz genießen.

Der Gedanke an Salzwasser machte Faron traurig. Das letzte Mal, dass das Geschöpf seinen Vater gesehen hatte, war an Bord eines Schiffes gewesen. Er war wütend an Land gegangen und nie wiedergekommen. Faron hatte ihn durch die Todesschuppe in einen tiefen Abgrund gleiten sehen. Der Fürst Rowan, Yl Angaulor, hatte ihm den Zutritt zum ewigen Frieden verweigert. Der Tod seines Vaters hatte Faron das Herz gebrochen. Tiefe Verzweiflung hatte eingesetzt, doch nur für kurze Zeit.

Die Trauer war mit der Gezeitenwelle fortgespült worden, die seinem Vater in die Unterwelt gefolgt war. Faron war unter Deck gewesen, in einem Tümpel aus glimmerndem grünem Wasser in der Dunkelheit des Schiffsbauches, als die Welle das Schiff getroffen hatte. Kurz zuvor hatte er Schreie gehört, aber er hatte nicht gewusst, was dort oben vor sich gegangen war, bis das Schiff heftig geschlingert hatte. Der Tümpel war ausgelaufen und Faron in den Schiffskörper geschleudert worden. Er hatte das Bewusstsein verloren und war irgendwann im Meer aufgewacht, umgeben von Treibgut und ohne Anzeichen eines anderen lebenden Wesens. Und so war es lange Zeit geblieben. Er hatte das brennende Salz und die donnernden Wellen ertragen, bis er bewusstlos in einem Fischernetz an Land geholt worden war.

Die Zeltklappe wurde zurückgezogen; Licht drang herein. Faron zuckte zusammen.

Eine kräftige Frau, gekleidet in viele Lagen zerrissener Blusen, befleckter Schürzen und zerfetzter Röcke, betrat das Zelt. In ihren scharfnageligen Händen hielt sie ein Tablett. Sie trug keine Schuhe; ihre gewaltigen Füße, doppelt so groß wie normal, standen in einem seltsamen Winkel ab und waren platt und mit Schwielen überzogen. Zwischen den Zehen schienen sich Schwimmhäute auszubreiten.

Sie kam geradewegs auf den Tank zu und spähte hinein. Faron wich zur rückwärtigen Wand und trat wild das Wasser. Die Frau zog die gerunzelten Lippen zurück und entblößte einen beinahe zahnlosen Mund; die wenigen Zähne, die sie noch hatte, waren entweder schwarz oder abgebrochen.

»Bist wach! Ach, Kleines, Emmi is so froh, dasses dir besser geht.«

Die Frau setzte das Tablett auf dem schmutzigen Boden ab und gluckste mitfühlend.

»Na, na, Kleiner, hast nix zu befürchten. Die alte Emmi würd dir nie was tun.« Sie löste den Knoten, der die Leinwand über dem Tank hielt, hob sie über ihren Kopf und warf sie auf den Boden.

Faron hob abwehrend den Arm und zischte die seltsame Frau an. Sie zuckte nicht zusammen, sondern verschränkte bloß die Arme vor der Brust und betrachtete den Neuzugang zärtlich.

»Hör auf damit, mein Kleiner, mein Süßer. Hast nix zu befürchten. Hungrig?«

Farons umwölkte Augen verengten sich. Er schaute sie misstrauisch an und nickte dann vorsichtig.

»Armer Kleiner. Hab dir ’n paar schöne Fische mitgebracht, lebende. Wülste?«

Eine Mischung aus Hunger und Erregung trat in Farons Blick. Die Frau kicherte darüber, zog das Tuch von dem Tablett und enthüllte eine kleine Schüssel voller Goldfische. Sie hielt sie vor Farons Gesicht und gluckste vor Vergnügen, als das Geschöpf in Vorfreude sabberte und jaulte. Sie streckte einen langen, krallenbewehrten Finger aus, spießte mit einer so schnellen Bewegung, dass Faron ihr nicht folgen konnte, einen der Fische auf und hielt das zappelnde Tier über den Tank.

»Hier, mein Schönchen, mein Süßer«, flüsterte sie. »Komm und iss.«

Faron schwamm zum hinteren Teil des Tanks und dachte nach. Schließlich siegte der Hunger über das Misstrauen, und das Geschöpf kam wieder hervor und drückte sich gegen die Vorderwand des Tanks. Mit zuckenden Lippen griff Faron nach oben und pflückte den zitternden Fisch vom Nagel der Frau. Er erbebte vor Lust, als der Fisch durch seine Kehle in den Magen glitt, der seit dem Schiffbruch nichts als Hunger gekannt hatte.

Draußen vor dem Zelt waren Stimmen zu hören, als zwei Männer vorbeigingen.

»Habt ihr Entenfuß-Emmi gesehen? Der Zirkusdirektor sucht nach ihr.«

»Ja, sie ist ins Zelt gegangen, um den Neuen zu füttern.«

Die Zeltklappe wurde wieder zur Seite gezogen. Faron wich vor dem Licht zurück. Entenfuß-Emmi blickte den Mann, der die Klappe geöffnet hatte, finster an.

»Emmi ...«

»Hab ihn gehört. Sag ihm, er soll seine Streifenhose anbehalten, hab zu tun. Muss den Neuen füttern«, sagte sie grob. Sie wandte sich wieder Faron zu, und das Stumpfzahnlächeln legte sich erneut über ihr Gesicht.

»Tut mir so Leid, mein Liebster, komm doch wieder her. Hier is noch einer.« Sie spießte einen zweiten Fisch auf und hielt ihn hoch.

Nach kurzem Zögern kehrte Faron zu ihr zurück und erlaubte ihr, einen Fisch nach dem anderen aufzuspießen und sie hochzuhalten, damit er sie essen konnte. Ihr schien die Berührung von Farons Lippen nichts auszumachen; im Gegenteil, es machte ihr Spaß, die zuckenden Fische verschwinden zu sehen, die allmählich seinen Hunger stillten. Sie sprach sanft mit Faron und sang ihm leise etwas vor, wie es eine Mutter bei ihrem Kind machte.

Sie war so sanft und freundlich; es war nach dem langen Schwimmen im Meer und den Misshandlungen an Land so schön, dass es Faron eine Erinnerung zurückbrachte – die Erinnerung an den Vater, der sich um sein Geschöpf so zärtlich gekümmert hatte, auch wenn er manchmal wütend und grausam gewesen war. Da stieg in ihm ein tiefes Gefühl von Verlust auf, wie er es noch nie verspürt hatte, und eine Träne rollte aus dem umwölkten Auge und über die faltige Wange.

Entenfuß-Emmis grässliches Lächeln machte einem Ausdruck mitleidiger Besorgnis Platz.

»Na, na«, sagte sie rasch, setzte die leere Fischschüssel ab und wandte sich wieder der weinenden Kreatur zu.

»Was is denn los, Liebchen? Die alte Emmi is doch hier, und sie wird nich zulassen, dass dir einer was tut.« Sie streckte die Hand aus und ballte vorsichtig die Finger mit den langen Nägeln zu einer Faust, damit sie das Geschöpf nicht kratzte. Dann wischte sie ihm ganz sanft mit den Knöcheln die Träne von der Wange. »Nich weinen, mein Liebchen, mein Schönchen. Bald fahren wir wieder.«

Farons Augen flogen auf, und plötzlich lag Erkennen in ihnen.

Entenfuß-Emmi zog darauf die Brauen bis in die Stirn.

»Was is los, Liebchen?«

Die an den Seiten aufklaffenden Lippen zitterten, und die verkrüppelten Hände schlugen gegen die Brust. Nun zog Emmi die Brauen verwirrt zusammen. »Fahren? Was is mit fahren?«

Faron zeigte auf sich. Er nickte und schüttelte dann wieder den Kopf.

Entenfuß-Emmi begriff allmählich. »Dein Name, nich wahr? Fahren?«

Faron schüttelte erneut den Kopf.

»Fahrn? Foahrn? Fern?« Sie probierte einiges, bis sie schließlich zu »Faron« kam und das Geschöpf im Tank beinahe rasend vor Freude wurde.

Die Frau klatschte begeistert.

Sie streckte die Hand aus und streichelte erneut mit den Knöcheln die Wangen der Kreatur. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Faron. Bist du Mann oder Frau?«

Das Geschöpf blinzelte; Unverständnis lag in seinem Blick.

Entenfuß-Emmi schüttelte den Kopf. »Egal, macht nix. Das wissen hier sowieso viele nich. Keine Sorge, Liebchen, Emmi passt auf dich auf, mehr brauchst du nich.« Sie kam näher; ihre Kleiderlumpen raschelten, als sie sich gegen das Glas presste. »Denk dran, Liebchen: Du bist so gut wie jede andere lebende Seele auf der großen, weiten Welt. Sie zahlen vielleicht, um solche wie dich zu sehen, um dich auszulachen und Sachen nach dir zu werfen, aber wer weiß, vielleicht bist du da, wo du herkommst, so was wie ’n König! Vielleicht biste in irgend’nem fernen Meer der Herr über all die Fische, die da schwimmen, un’ auch über die Austern un’ Muscheln. Un’ wer sin’ schon die, die über dich lachen? Bauerntrampel, allesamt. Hirnlose Bauern, die ihre elenden Kupfermünzen dafür ausgeben, andere auszulachen. Dabei wollense nur ihr eigenes Leben vergessen, weil’s so sinnlos is.« Ihr Lächeln wurde breiter und ihre Stimme wärmer.