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Anwyn

Die Aufwinde erfassten den elementaren Laut und dehnten ihn in den Luftstößen, bis er in langen, jammernden Wellen um den Gipfel schwebte und tanzte.

Annnnnnnwyyyyyyyyynnnnnnnnn!

Der Laut schwoll an und erfüllte die dünne Luft um den Berggipfel. Er nahm an Kraft und Eindringlichkeit zu; seine Schwingungen schüttelten den Schnee von den Bergspitzen und lösten Lawinen aus, die glitzernd an den Hängen herabstürzten.

Der Lärm wuchs und verebbte, wurde von Windströmungen erfasst und breitete sich in ihnen aus, wisperte hinaus in die weite Welt und vervielfältigte ihren Schrei wieder und wieder, bis er den Rand des Meeres erreichte.

Die Bestie packte die eisigen Felsen des Berggipfels, und der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich so stark wie seit ihrem Erwachen nicht mehr. Sie hielt sich in den Wind, ihr reptilienhaftes Blut kreiste in einer Art Ekstase. Sie spürte den Widerhall ihres Namens in der Welt und seinen Tanz auf dem Wind; er donnerte die Hänge herab und jammerte durch die Schluchten.

Und in der Ferne, tausend oder mehr Meilen entfernt, erhob sich ein Lärm, der ihm antwortete und sein Echo war. Es war eine Schwingung aus der tiefen Vergangenheit, jahrhundertealt, in einer polternden Stimme, die nicht wie die eines Drachen klang, auch wenn sie sandig war, als ob sie auf irgendeine Weise an die Erde gebunden sei. Obwohl das Wort dasselbe und die lang gezogene Melodie der Silben beinahe die gleiche waren, steckte doch eine völlig andere Macht dahinter. Während der Ruf der Drachin siegreich geklungen hatte, kam die Antwort von einer gequälten Stimme. Selbst noch Jahrhunderte später und tausend Meilen in Raum und Zeit entfernt, war die Wut und der Hass, die in diesem Wort lagen und es zu einer peinvollen Wehklage anschwellen ließen, unüberhörbar.

Annnnnnnwyyyyyyyyynnnnnnnnn!

Die Bestie hob den Kopf über den Wind; ihre Sinne waren zu kristallener Klarheit geschärft.

Ihr gieriger Drachensinn empfing die Antwort wie ein Leuchtfeuer aus der Vergangenheit. Sie drehte sich langsam um, beachtete nicht das eisige Peitschen des unbändigen Sturms, schloss alle anderen Gedanken und Einflüsse aus und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Klang ihres Namens, der sich allmählich in dem Wind zersetzte, der ihn aufgenommen hatte.

Ihr Name, voller Hass ausgesprochen, klang wie der tiefste Ton einer eisernen Glocke, wie das Brüllen des Meeres, wie die Musik der Sterne in der kalten Leblosigkeit des Nachthimmels.

Ihr Geist hatte ihn eingefangen. Nun ertönte er unablässig hinter ihren Augen und rief ihr zu aus den dunkelsten Tiefen der Geschichte.

Sie wusste nicht, wer ihr geantwortet hatte oder warum es mit solcher Erbitterung geschehen war, aber das war gleichgültig. Irgendwo südlich der vereisten Berge, irgendwo hinter dem sichtbaren Horizont, irgendwo in der Vergangenheit hatte jemand sie gekannt. Jemand besaß eine Macht, die der ihren ähnlich war. Jemand, den sie wütend gemacht hatte. Bei diesem Gedanken stahl sich grimmige Freude in ihr Herz.

Endlich hatte sie eine Verbindung zu dem Ort, an welchem jener Schrei ausgestoßen worden war.

Sie war nun in der Lage, ihn zu bestimmen, und dabei vielleicht mehr über sich selbst und ihre Kraft herauszufinden.

Und über die Frau, die sie hasste.

Die Drachin glitt von dem Gipfel herunter und folgte durch den brausenden Wind und die tote Wüste dem Klang ihres eigenen wahren Namens; sie hielt sich in Richtung Süden, bis der endlose Winter dem späten Sommer wich. Sobald der Boden warm genug war, grub sie sich ein und folgte dem rauen Lied ihres Namens unter der Erdoberfläche.

Sie jagte die Echos.

Ihre erregende Vorfreude auf Blutvergießen stieg mit jeder Meile, die sie zurücklegte.

15

Terreanfor — Basilika des lebendigen Gesteins — Sorbold

Talquist wartete ungeduldig im grauen Licht der Morgendämmerung.

Wann immer er in den Nachtberg kam, nahm er nicht wie all die anderen Besucher des Tempels den Weg durch die Klamm, die sich durch die trockenen Felsen wand, welche als natürliche Festung dienten, sondern einen schmalen Pfad, den er vor vielen Jahren entdeckt hatte, als er Messdiener in der Basilika gewesen war. In jüngeren Jahren hatte ihn das Klettern erschöpft, doch als älterer Mann hatte er gelernt, sich abzuhärten und die Reise ohne größere Anstrengungen hinter sich bringen.

Während er darauf wartete, dass sich die Geheimtür öffnete, betrachtete er die trockenen Felsformationen, die den Nachtberg umgaben. Ihre Farben waren prachtvoll. Die gnadenlose Sonne Sorbolds hatte Adern aus blassem Rosa und Rostrot, Spuren von Grün und dunklerem Purpur in sie eingebrannt und den sandigen braunen Stein der Wüste ausgebleicht. Tiefer im Berg, im kühlen Reich des Lebendigen Gesteins, wohin das Licht nicht reichte, erstrahlten die Farben in ihrem früheren Glanz; sie waren echt, tief und voller Leben.

Eine Spur größerer Pracht, die sich mitten im Berg versteckt, dachte er. Wie passend.

Die Steinplatte vor ihm knirschte. Talquist wandte sich ihr zu und sah, wie eine dunkle Türöffnung vor ihm in den Schatten erschien. Er eilte hinein.

Lasarys, der oberste Priester von Terreanfor, stand dicht hinter der Tür und hielt eine schwache Laterne in der Hand. Als die steinerne Tür wieder zuschwang und das Licht ausschloss, bemerkte Talquist, dass das blasse Gesicht des Erdenpriesters mürrischer als sonst aussah.

»Guten Morgen, Lasarys«, sagte Talquist mit übertriebenem Eifer. »Wie geht es dir an diesem neuen Tag?«

»Sehr gut, mein Herr«, antwortete der Hauptpriester. »Und Euch?«

»Nun, das kommt darauf an, Lasarys. Wie geht es mit deinem Projekt voran?«

Lasarys schluckte sichtlich. »Ich ... ich habe einige weitere Orte gefunden, wo ich ernten kann, mein Herr.«

»Ausgezeichnet!«, rief Talquist und versuchte seine Freude zu verbergen. Er wusste, dass das Gewinnen des Lebendigen Gesteins für Lasarys eine mehr als unangenehme Aufgabe war. Für ihn war es, als müsse er seiner eigenen Mutter die Brust abschneiden. »Zeig sie mir.«

Lasarys verneigte sich leicht und hielt das kalte Licht hoch, das den Weg in das Innere der Kathedrale erhellte. Terreanfor war die älteste der fünf den Elementen geweihten Basiliken und die einzige in Sorbold. Zugleich war sie die bekannteste und so alt wie die Erde, einer der letzten Fundorte des Lebendigen Gesteins auf dem Kontinent. Die Magie dieses Ortes war selbst in der Luft zu spüren. Von dem Augenblick an, wo Talquist aus dem heißen, trockenen Wind der äußeren Welt in die kühlen, feuchten Tiefen des Tunnels in den Nachtberg getreten war, fühlte er die Macht.

Er folgte dem Schatten des Hauptpriesters durch die gewundenen Tunnel, an die er sich aus der Zeit seines Messdienstes erinnerte. Die dunklen Wände schimmerten in Grün und Rosa, Purpur und Blau, wenn das Licht auf sie fiel. Im Gegensatz zu ihrem dunklen Bruder steckte die Lebendige Erde voller Farbe.

Die Tunneldecke wich einem großen, hohen Gewölbe weit über ihnen, als sie den eigentlichen Tempel betraten. Lasarys löschte die Laterne. Das einzige Feuer, das in den äußeren Gängen von Terreanfor gestattet war, wurde an einem goldenen Symbol der Sonne entzündet. In der Basilika selbst war kein Licht erlaubt außer den glimmernden, phosphoreszierenden Steinen, die aus sich selbst heraus kalt in der ansonsten vollkommenen Finsternis leuchteten.

Sie schritten an der ersten der gewaltigen Säulen vorbei, die wie Bäume geformt waren, welche bis zum Gewölbe der Hauptapsis reichten, in der eine ganze Menagerie von Tierstatuen stand. Es waren lebensgroße Skulpturen von Löwen, Gazellen, Elefanten und Gnus, die fast zu atmen schienen, da sie aus Lebendigem Gestein geschaffen waren. Hoch oben in den Steinbäumen hockten Vögel, deren Federn im kalten Licht die tiefen, satten Farben der Erde zeigten. Talquist glaubte beinahe, sie zwitschern zu hören.