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Und nun zuckte das Kind, drehte sich leicht von einer Seite auf die andere, als wolle es bald erwachen. Achmed dachte an den Tag vor beinahe vier Jahren, als er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ihm von der Großmutter gezeigt worden, einer uralten dhrakischen Frau, die seit Jahrhunderten allein mit dem Kind gelebt und es bewacht hatte. Sie war die letzte Überlebende einer Kolonie aus dem Volk seiner Mutter gewesen, die ihr Leben für die Rettung und den Schutz des Kindes hingegeben hatte. Unter dem wachsamen Blick der Wächterin hatte er auf die bemerkenswerte Kreatur hinuntergeschaut und bemerkt, dass ihre Züge zugleich rau und sanft waren, als ob das Gesicht mit stumpfem Werkzeug gemeißelt und danach ein ganzes Leben lang sorgfältig poliert worden sei. Er hatte sich über ihre Augenbrauen und Lider gewundert, die wie aus trockenen

Grashalmen gemacht schienen und zu ihren faserigen, Weizengarben gleichenden Haaren passten.

Sie ist ein Kind der Erde, geformt aus Lebendigem Gestein, hatte die Großmutter in ihrer summenden Sprache gesagt. Bei Tage und bei Nacht, zu allen Jahreszeiten schläft sie. Sie war schon vor meiner Geburt hier. Ich bin verpflichtet, sie zu bewachen, bis der Tod mich holt. So muss es auch bei dir sein.

Er hatte diesen Befehl ernst genommen.

»Nun?«, fragte er leise, als er seine Sorgen nicht mehr unterdrücken konnte. »Was geschieht mit ihr?«

Grunthor seufzte und trat so weit von dem Katafalk zurück, dass das Kind ihn nicht hören konnte.

»Sie blutet sich zu Tode«, sagte er.

Scheinbar endlos warteten sie zusammen in der Dunkelheit, in der noch der Rauch der vergangenen Jahre hing. Sie wachten über das Schlafende Kind und suchten nach einem Grund für sein Welken.

Weil Grunthors Adern ebenfalls mit der Erde verbunden waren und sein Herz im gleichen Rhythmus wie das ihre schlug, versuchte er die Quelle ihrer Auflösung zu ermitteln, indem er schweigend mit ihr in Verbindung trat, doch er entdeckte nichts als ein schmerzhaftes Gefühl schlimmen Verlustes. Schließlich trat er zurück und schüttelte traurig den massigen Kopf.

»Vielleicht versuchst du’s einmal«, schlug er Achmed vor, der neben dem Katafalk des Kindes hockte, die Ellenbogen auf die Knie gestützt hatte und die Hände vor die verhüllten Lippen hielt. »Kannst du deine Blutgabe einsetzen?«

Nun schüttelte auch der Bolg-König den Kopf. »Sie ist schon lange versiegt«, murmelte er leise, weil er das Erdenkind nicht stören wollte. »Die Gabe tritt nur noch sporadisch auf. Sie hilft ausschließlich bei denen, die in Serendair geboren wurden. Während ich nicht in der Lage bin, dem Kind zu helfen, pocht der Herzschlag eines jeden lebenden Cymrers noch immer deutlich in meinem Kopf, und du weißt, wie sehr ich diese Idioten liebe. Diese Ironie macht mich krank. Die Götter lachen sich bestimmt kaputt darüber.«

Der Sergeant-Major stieß scharf die Luft aus. »Ja? Dann sollen sie sich doch kaputt lachen. Was jetzt?«

Achmed stand auf und legte seine Hand auf die des Erdenkindes. Er beugte sich über sie, strich ihm die grasigen Haarsträhnen aus der verschwitzten Stirn und hauchte einen Kuss darauf.

»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Wir halten Wacht. Wir werden herausfinden, wer dir das antut, und wir werden es unterbinden.«

Er drehte sich um und ging in die Dunkelheit, zurück zu der Barriere aus Schutt und dem Tunneleingang. Sobald sie außer Hörweite waren, sprach er die letzten vier Worte für diese Nacht.

»Ruf die Archonten zusammen.«

Die Drachin lag still, als der Tag kam und der erfrorenen Welt um sie herum Licht, aber keine Wärme brachte. Als die Nacht dem Tag folgte, wiederholte sich der Kreislauf. Ihr gebrochener Verstand heilte allmählich, fand wieder zu sich, obwohl sie noch immer nicht ihre Gestalt begriff und sich nicht erinnern konnte, wieso sie so fern von diesem Ort kalter Klarheit in einer Höhle aus Rauch und Asche eingesperrt gewesen war.

Als sie hier angekommen war, hatte sich die Welt bereits im Griff des Herbstes befunden; nun kündigte der Winter mit frühen und bitterkalten Winden sein Nahen an. Obwohl sie noch keine Klarheit über sich erlangt hatte, sagte ihr Instinkt, sie müsse rasch einen warmen Unterschlupf finden, denn sonst werde sie sterben. Unter großen Anstrengungen hob die Bestie den Kopf, wuchtete sich auf die Unterarme und kroch über die Erde, so wie sie zuvor durch die Erde gekrochen war, über den frostglatten Boden und die endlose, von trockener Vegetation betupfte Ebene bis zum Ufer eines beinahe zugefrorenen Sees. In der Ferne meinte sie Rauch aus ihm aufsteigen zu sehen, doch aller Wahrscheinlichkeit nach waren es nur Eiskristalle, die der scharf über die Tundra wehende Wind aufgestöbert hatte.

Nachdem sie sich unter Schmerzen einen Weg durch das Dickicht am Ufer gebahnt hatte, streckte sie zögerlich eine Hand aus und berührte die Wasseroberfläche. Sie wollte herausfinden, ob der See bereits gefroren war und ihr Gewicht tragen konnte.

Die spiegelähnliche Oberfläche, die noch nicht vollständig zu Eis geworden war, warf ein Bild zurück, das ihr die Luft abschnürte.

Keine Hand spross aus dem Gelenk, sondern eine rotgoldene und mit Schuppen besetzte, verkrümmte Klaue, die in grausamen Krallen endete, von denen einige rasiermesserscharf, andere abgebrochen waren und eine fehlte. Sie wurden von Knochen zusammengehalten, die nichts entfernt Menschliches mehr an sich hatten.

Die Bestie prallte vor Entsetzen zurück.

Die große Klaue verschwand und hinterließ Kräuselungen im gefrierenden Wasser.

Der noch benommene Verstand der Drachin kämpfte gegen das an, was sie gesehen hatte, doch in ihrem Innern setzte Begreifen ein.

Langsam kroch sie vorwärts, stärkte ihre Entschlossenheit und schaute hinunter auf das Wasser.

Teilweise verborgen von Weidengestrüpp und Farnkraut, erblickte sie ein Gesicht, das zwar eine Saite ihrer Erinnerung berührte, welches sie aber nicht als ihr eigenes erkannte.

Sie riss die Büsche auseinander und sah erneut hin.

Dann stieß sie einen Schrei der Wut aus, ein lang gezogenes, anhaltendes Heulen, das zur Verzweiflung gerann und den Schnee in großen, weißen Massen von den Berghängen trieb.

Als sie sich dazu zwingen konnte, erneut hinzusehen, waren ihre Augen voller ungeweinter Tränen.

Vergangen war ihre stolze Schönheit. Sie war eine hübsche Frau gewesen, hatte die große, statuenhafte Gestalt ihres Vaters geerbt und auch seine goldfarbene Haut. Die spannenden Züge ihres Gesichts, das unzählige Gemälde bei Hofe inspiriert sowie Statuen und Münzen als Vorbild gedient hatte, war ebenfalls verschwunden und durch die scheußlichen Umrisse einer Bestie, eines Drachen ersetzt worden, wie ihre verachtete Mutter einer gewesen war.

Die Drachin starrte weiterhin ihr Gesicht an und war in Unglauben und Entsetzen gefangen. Nase und Mund verengten sich zu einer schlangenähnlichen Schnauze, die Haut war zu roten Schuppen geworden, die im Licht metallisch glänzten und Spuren von Schwarz und Kupfer aufwiesen, an den Rändern gehörnt waren und schwimmhautartige Schwingen ausbildeten, von denen eine zerfetzt war und schlaff am Rücken herunterhing. Nur die Augen waren noch so wie früher: brennende blaue Augen, die einen Mann mit einem einzigen Blick dem Erdboden gleichzumachen vermochten und so zwingend waren, dass sie mit ihrem Blick beinahe jede Seele verzaubern, versklaven oder verführen konnte.

Als sie nun ihr Spiegelbild in dem halb gefrorenen See anschaute, flössen diese zwingenden blauen Augen vor Kummer über. Die Felsen, auf welche ihre Tränen fielen, glitzerten golden im Sonnenlicht und würden für alle Zeiten so bleiben.