»Mir scheint, du glaubst, ich sei immer das Letztere gewesen«, sagte Llauron, entfaltete seine dünnen Schwingen und streckte sie träge. Sie fuhren wie Nebel ohne Widerstand durch die Äste und Farne des Waldes. »Ich fürchte, das kann ich nicht bestreiten.
Aber fällt dir die Vorstellung wirklich so schwer, Gwydion, dass ich in meinem hohen Alter dieselben Freuden erfahren will wie jeder andere werdende Großvater, der sich an seinen Nachkommen ergötzt?«
Der hässliche Laut, der aus Ashes Kehle kam, war sowohl ein Gurgeln als auch ein Husten.
»Ja, das ist es«, sagte er nur. »Du willst Großvater sein?«
»Allerdings.« Die Bestie schlug mit den Luftflügeln und fegte damit viele trockene Blätter von den Zweigen.
»Enkel sind eine zweite Gelegenheit, das Glück zu erfahren, das uns beim ersten Mal möglicherweise entgangen ist, Gwydion. Stelle nicht mein Verlangen infrage, die Abkömmlinge meines Blutes kennen zu lernen. Wenn du etwas über unsere Rasse weißt, dann, dass es – falls überhaupt – nur wenig gibt, was einem Drachen wichtiger ist als Nachkommenschaft.«
»Ja, das ist mir durchaus bewusst«, sagte Ashe. Er ging näher an die ätherische Bestie heran und stellte sich zwischen sie und den Weg zu Elynsynos’ Höhle. »Und da mir meine eigene Nachkommenschaft wichtiger ist als jegliches andere, werde ich alles Nötige tun, damit sie nicht das Vergnügen haben muss, so lange von einem Mitglied der Familie beeinflusst zu werden, bis sie sich nutzlos, sinnlos oder gar verdammt fühlt. Das sind Gefühle, die ich dank meiner zärtlichen Erziehung sehr gut kenne. Ich will nicht, dass mein Sohn oder meine Tochter sie je empfinden muss. Niemals. Und ich weiß, dass Rhapsody derselben Meinung ist. Halt dich also von diesem Ort fern. Ich glaube nicht, dass deine Einwände ehrlich gemeint sind. Ich bin mir sicher, dass auch hier ein anderer Beweggrund die Hauptrolle spielt, ein versteckter Grund, der dir zum Nutzen und allen anderen zum Schaden reicht. Aber da die anderen meine Frau und mein Kind sind, werde ich es nicht erlauben. Gerade weil ich zum Teil ein Drache bin, ist nichts anderes mir wichtig. Geh fort.«
Der Ausdruck der Trauer verschwand in den prismatischen Augen der Bestie und machte etwas Strengerem Platz. Es war ein Ausdruck, den Ashe erkannte, auch wenn er ihn bisher nur in dem menschlichen Gesicht seines Vaters gesehen hatte. Llauron schaltete vom Gefühlvollen und der Zurschaustellung von Schwäche um zum Logischen, worin seine Stärke lag.
»Du willst mich also zum Besten des Kindes von ihm fern halten?«
Der Kopfschmerz hinter Ashes Augen stach heftig zu. Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln und versuchte ihn zu bekämpfen.
»Und zu Rhapsodys Bestem«, sagte er und zuckte zusammen.
Der Drache nickte nachdenklich. »Und deiner Ansicht nach ist es besser für dein Kind, wenn es aufwächst, ohne seinen Großvater zu kennen?«
»Traurigerweise ja.«
»Wie kurzsichtig zu bist.« Der große graue Drache streckte die Flügel ein wenig aus und peitschte dadurch die Eiskristalle auf der Oberfläche des Schnees; die leichte Brise trieb sie Ashe in die Augen. »Ist dir schon der Gedanke gekommen, dass dein Kind, das gezeugt wurde, als dein Drachenblut auf dem Höhepunkt seiner Kraft war, noch drachenartiger sein könnte als du? Es wird nur wenige Lehrmeister haben, die wie es selbst sind; Drachen sind schon selten genug. Doch jene, die mit dem Kind eng verbunden sind, sind noch seltener und weit voneinander entfernt...«
»Er oder sie kann von Elynsynos lernen«, sagte Ashe knapp. Es ärgerte ihn, dass das Gespräch noch immer nicht beendet war. »Sie ist seine Ururgroßmutter, eine reine Drachin, kein bloßes Wesen mit Drachenblutanteil wie du und ich. Niemand weiß so gut wie sie, wie es ist, Drache zu sein. Ich bin sicher, dass sie meinem Kind gern die Drachenart und Drachenweisheit beibringen wird. Außerdem hat sie Rhapsody und mich noch nie betrogen. Also vielen Dank für dein großzügiges Angebot, aber ich glaube, die Erziehung des Kindes ist geregelt.«
»Meine Großmutter ist nicht als menschliches Wesen durch die Welt gegangen«, sagte Llauron sanft. Die silbernen Schuppen glitzerten im staubigen Schimmer der Lichtung auf. »Sie hat nur menschliche Gestalt angenommen – oder genauer serenische –, um die Aufmerksamkeit Merithyns auf sich zu lenken. Sie mag die alten Zeiten kennen, wie es bei mir nicht der Fall war, so lange ich eine menschliche Gestalt hatte, doch da ich nun mit den Elementen vereint bin, kenne ich diese Geschichten ebenfalls, Gwydion. Und ich habe viel mitzuteilen. Sicherlich willst du nicht alles verwerfen, was ich dich über die Welt gelehrt habe.«
Ashe sog heftig die Luft ein und füllte die Lungen mit der frierenden Luft des Waldes. Sie wog schwer in ihm. Die Worte seiner Frau, ausgesprochen als Benennerin auf dem Konzil, das sie und Ashe zu Herrschern über das cymrische Volk bestimmt hatte, klangen ihm in den Ohren.
Wenn ich eine Botschaft für euch habe, dann diese: Die Vergangenheit ist vorbei. Lernt aus ihr und lasst sie los. Wir müssen einander vergeben. Wir müssen uns selbst vergeben. Nur dann werden wir wahren Frieden finden. Er betrachtete das Gesicht der ätherischen Bestie, das vor ihm in der Luft hing. Die Augen des Wesens blitzten vor Verständnis, doch es lag noch mehr darin. Ashe wusste nicht, was es war, aber für einen Augenblick wirkte es wie Verlangen oder etwas Ähnliches.
Unwillkürlich dachte er an seine Kindheit zurück, an die früheste Zeit, an die er sich erinnern konnte, bevor ihm ein Stück des Seren in die Brust eingesetzt worden war, bevor seine Drachennatur sich gezeigt hatte, damals, in den Tagen der Unschuld, als er bloß ein Junge war, fast allein auf der Welt, nur mit seinem Vater, der es liebte, mit ihm durch die Wälder zu wandern, und der ihm alle Arten von Bäumen und Pflanzen zeigte, der ihm Seemannslieder und alte Volksweisen vorsang, der ihn Segeln und Schwimmen in jenem Ozean lehrte, welcher später ein Teil von ihm wurde. Zu seinem Entsetzen waren diese guten Erinnerungen noch immer da; sie waren nicht, wie er geglaubt hatte, getilgt worden durch Llaurons spätere Selbstsucht und seine Bereitschaft, seinen Sohn und – schlimmer noch – Rhapsody für seine Ziele einzusetzen, wie hehr auch immer sie gewesen sein mochten.
»Ich glaube, dass du wirklich Teil des Lebens und der Erziehung deines Enkels oder deiner Enkelin sein willst, Vater«, sagte er schließlich und zuckte unter der Hoffnung zusammen, die er in den grau-blauen Augen des Drachen aufkeimen sah. »Deine Geschichtslektionen mögen wertvoll sein, doch anderes, das du zu lehren pflegst, ist viel gefährlicher und schmerzhafter. Ich wünschte, es wäre nicht so. Es tut mir Leid.«
Er drehte sich rasch um, ging in den Wald und ließ Llaurons neblige Gestalt zurück.
Die Bestie schaute ihm nach. Llaurons Drachensinn folgte ihm mehr als fünf Meilen und bemerkte den schnellen Schritt seines Sohnes, den Kloß in seinem Hals und das gerötete Gesicht. Als Ashe schließlich jenseits der Reichweite seiner Sinne war, verschmolz Llauron langsam mit dem Wind und verschwand. Er hinterließ auf den trockenen Blättern des Waldes nur eine feine Spur aus Gold, die man dort entdecken kann, wo die Tränen eines Drachen auf die Erde gefallen sind.
Das Gemetzel
27
Der äußere Ring der Stadt war ein Labyrinth aus weißen und grauen Marmorgebäuden, die in jene Hänge eingelassen waren, welche sich schließlich zum schützenden Gebirge von Sorbold im Süden erhoben. Diese Gebäude – Wohnhäuser, Versammlungshallen und Museen – schimmerten in weiter Ferne im Licht des Morgens und erweckten den Eindruck, als leuchte die ganze Stadt.
Als ob dies nicht genug wäre, um der Gegend eine heilige, beinahe magische Patina zu verleihen, erhob sich in der Mitte der Stadt ein gewaltiges Gebilde, das als »der Turm« bekannt war. Es handelte sich dabei um den Turm von Lianta’ar, der großen Basilika des Sterns, der heiligsten aller Elementarbasiliken. Sie war ein Meisterwerk der Architektur, dessen Fundament einen ganzen Häuserblock umspannte und das sich tausend Fuß hoch in die Luft erhob und von einem goldenen Stern gekrönt wurde. Diese leuchtende Spitze enthielt den Legenden nach ein Stück Äther aus dem Stern Melita, der in der cymrischen Überlieferung auch als »das Schlafende Kind« bekannt und im Ersten Zeitalter auf die Erde gefallen war. Sein Einschlag hatte die Insel zur Hälfte versenkt. Der brennende Stern hatte vier Jahrtausende lang unter den Wellen begraben gelegen und den Ozean über sich zum Kochen gebracht, bis er sich schließlich erhoben und auch den Rest der Insel beansprucht hatte. Doch ein Stück von ihm war mit den cymrischen Auswanderern gereist, so hieß es beharrlich in den Legenden, und erhellte nun die Turmspitze, die Tag und Nacht leuchtete und noch aus einer Entfernung von hundert Meilen sichtbar war. Lasarys und die zwei Diener, die dem Gemetzel auf dem Platz von Jierna Tal entkommen waren, waren diesem Licht wie einem Leuchtfeuer gefolgt. Wenn sie auf der Flucht erkannt worden wären, hätte man sie zu Talquist zurückgeschickt, der sie tot glaubte und die Wirklichkeit seinem Glauben angepasst hätte. Daher waren sie langsam und umsichtig gereist und hatten sich einer Karawane aus Pilgern angeschlossen, die in die heilige Stadt zog. Die Pilger hatten sie freundlich aufgenommen – es befanden sich bereits weitere unbekannte Reisende in ihren Reihen – und ihnen erlaubt mitzugehen, bis der Turm in Sichtweite war. Dann trennten sich die früheren Priester von ihnen und suchten nach Nielash Mousa, dem Segner von Sorbold und Seligpreiser ihrer Nation, da sie ihm alles berichten wollten, was sie gesehen hatten.