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Nun standen sie vor dem Stadttor; der hoch aufragende Turm warf einen tiefen Schatten auf sie. Die in Pilgerroben gekleideten Priester badeten schweigend in der Großartigkeit ihrer heiligen Stadt und deren Turm, während Eiskristalle sie auf dem Wind umtanzten. Der Turm wurde als unmittelbare Verbindung des Patriarchen zum Schöpfer angesehen; daher war ein Blick auf dieses Bauwerk gleichzeitig ein Blick auf die Schwelle des Nachlebens.

Lester war der Erste, der die Sprache wieder fand.

»Wie können wir den Segner finden, Vater?«, fragte er Lasarys unruhig, während er den Strom menschlichen Verkehrs beobachtete, der in der Hauptsache aus Dienern und Priestern der patriarchalischen Religion bestand, die zusammen mit Kaufleuten, Händlern und Bettlern durch das Stadttor strömten. »Keiner von uns ist jemals hier gewesen. Wenn wir nach dem Weg fragen, wird man uns zweifellos erkennen, denn alle anderen hier scheinen von orlandischem Geblüt zu sein.«

Der alte Hauptpriester schüttelte den Kopf. »Haltet den Blick auf den Boden gerichtet und betet, der All-Gott möge uns helfen.«

Dominikus steckte nervös die Hände in die Ärmel seiner Robe und trottete mit Lester hinter Lasarys her. Gemeinsam näherten sich die drei Männer dem Stadttor.

»Was wollt ihr hier?«, fragte der Wächter mechanisch.

Lasarys verneigte sich ehrerbietig. »Wir sind Leinenweber aus Sorbold, Herr«, sagte er sanft. »Wir sind hier, um die Roben Seiner Heiligkeit zu säubern und die Fäden für seine neuen Kleider zu spinnen.«

Der Wächter schnaubte und trat zur Seite. Sein Blick war glasig vor Langeweile.

Rasch eilten die drei Priester durch die bevölkerten Straßen und machten sich auf den Weg zu dem Haus, in dem der Patriarch lebte. Es war nicht schwierig zu finden. Das Pfarrhaus war ein auffallend schönes Marmorgebäude mit gewaltigen, messingbeschlagenen Türen, das gegenüber dem Turm an die Basilika angebaut war, aber dennoch im Licht der Sternenspitze lag. Es wurde von zwei Soldaten mit Speeren bewacht.

»Was wollt ihr?«, fragte die erste Wache, als sich die drei Männer der Tür näherten.

»Wir sind Priester aus Sorbold und möchten mit Nielash Mousa sprechen«, sagte Lasarys mit tiefer Stimme und wandte dabei bescheiden den Blick ab. »Wir bitten um eine sofortige Audienz; es ist sehr wichtig.«

Der erste Soldat betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen und murmelte dann seinem Gefährten einige Worte zu, worauf dieser nickte. Der Wächter öffnete einen der großen, messingbeschlagenen Türflügel und verschwand im Haus. Einige Zeit später erschien er wieder und grinste selbstgefällig.

»Der Seligpreiser ist leider nicht mehr hier«, sagte er. »Er ist nach Sorbold zurückgekehrt. Ihr könnt gehen.«

Die drei Priester starrten einander voller Entsetzen an, dann wandten sie sich rasch ab, denn sie wollten die Neugier der Wachen nicht wecken.

»Was jetzt?«, fragte Lester verzweifelt.

»Vielleicht sollten wir mit dem Patriarchen reden«, schlug Dominikus vor.

Lasarys unterdrückte ein bitteres Lachen.

»Der Patriarch empfängt jemanden wie uns nicht; das ist gar nicht vorgesehen«, sagte er, während er eine gefrorene Gosse übersprang, in der sich das Wasser von der Straße gestaut und eine Eisfläche geschaffen hatte, die wie frostige Finger in das Pflaster griff. »Wenn er sich nicht mit Staatsoberhäuptern oder Hohepriestern und Segnern bespricht, empfängt er unsere Gebete zum All-Gott und bringt sie ihm dar.« Die beiden Hilfspriester nickten. Jeder Anhänger des patrizianischen Glaubens kannte die Lehre, nach der die einfachen Leute die Gebete ihren Priestern darbrachten; diese wiederum gaben sie an den Hohepriester weiter, der sie dem Segner überantwortete und dieser dem Patriarchen, der sie an den All-Gott richtete. Der Patriarch allein hatte die Möglichkeit, unmittelbar mit dem Schöpfer zu reden; alle anderen konnten es nur mittelbar.

»Was sollen wir also tun?«, beharrte Lester.

Lasarys seufzte entmutigt.

»Wir sollten Lianta’ar besuchen und dort unsere Gebete darbringen«, sagte er. »Vielleicht säubert der heilige Äther im Turm über uns ein wenig von den Schrecken, deren Zeugen wir waren. Vielleicht überkommt uns dann die Weisheit.«

Die Priester umrundeten das gewaltige Gebäude und suchten nach dem Eingang. Sie fanden ihn schließlich an der Ostseite des Tempels, der aufgehenden Sonne zugewandt. Die Tore waren aus schimmerndem Messing geschmiedet, in das ein silberner, achtzackiger Stern eingelegt war. Die hoch aufragenden Mauern aus poliertem Marmor und die Kuppel waren höher als alles andere in der bekannten Welt.

Für den Hauptpriester und seine beiden Gehilfen, die zwar einen großen Teil ihres Lebens mit dem Dienst an den Gläubigen verbracht hatten, aber bisher noch nie in Sepulvarta oder Lianta’ar gewesen waren, stellte der Schritt über die Schwelle der Basilika beinahe so etwas wie der unmittelbare Eingang in das Nachleben dar. Die Architektur der Basilika war unübertroffen, was ihre Länge, Breite, Höhe und Schönheit anging. Zahllose farbige Mosaike bedeckten Boden und Gewölbe, ausgezeichnete Vergoldungen schmückten die Fresken an den Wänden und die Fenster aus farbigem Glas. Die Männer blieben stehen, denn sie konnten nicht all das in sich aufnehmen und gleichzeitig weiterschreiten. So erging es vielen hundert Gläubigen, die kurz vor ihnen durch die Tür getreten und dahinter in Ehrfurcht erstarrt waren.

Nach einigen entrückten Augenblicken schüttelte der Hauptpriester seine Verzückung ab und zupfte an Lesters Ärmel. Rasch bahnten sie sich einen Weg durch die Masse der Gläubigen, die mit offenem Mund die Decke anglotzten, gingen am Lektorenkreis vorbei, wo heilige Texte laut vorgelesen wurden, und begaben sich in eine der Bänke, die den zentralen Altar auf allen Seiten umgaben.

Der Altar selbst stand auf einer zylindrischen Erhebung, zu der einige Stufen hochführten. Er war aus einfachem Stein gehauen, aber in Platin eingefasst und konnte von überall aus eingesehen werden. An diesen Altar wurden jede Woche besondere Anliegen, Gebete und Gesuche um Weisheit oder Heilung gerichtet, die die fünf Segner des Glaubens gesammelt und dem Patriarchen zur Darbringung an den All-Gott übergeben hatten. Lasarys betrachtete nun den Altar und legte seine gedankliche Bitte durch die Vermittlung des Patriarchen schweigend dem Schöpfer zu Füßen, auch wenn er dazu gar nicht berechtigt war.