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»Während des Sturms warst du nicht an Deck?«

»Nein, das brauche ich nicht, wenn mich der Kapitän nicht ausdrücklich holen läßt.«

»Also hast du nichts mehr von Schwester Muirgel gesehen, nachdem du von ihr weggegangen warst?«

»Nein. Ich wurde davon wach, daß einer der Mönche kurz nach dem Morgengrauen das Schiff absuchte. Ich hörte, wie er mit den anderen sprach und sagte, Schwester Muirgel ist verschwunden. Es war der Mann, mit dem du eben geredet hast. Dann hörte ich, wie Murchad sagte, wenn sie nicht auf dem Schiff ist, dann muß sie während der Nacht über Bord gegangen sein. Der Kapitän meinte, das wäre die einzig mögliche Erklärung.«

»Also, Wenbrit«, überlegte Fidelma, »was hältst du davon? Hast du eine andere Erklärung?«

»Ich sage, daß Schwester Muirgel nicht in der Verfassung war, an Deck zu gehen, nicht bei dem Seegang, den wir in der Nacht hatten.«

»In der Verzweiflung machen die Menschen manchmal ganz verzweifelte Sachen«, bemerkte Fidelma.

»Diese Nonne aber nicht«, widersprach Wenbrit.

»Also was meinst du?«

»Ich sage, sie war zu krank, um sich von selbst zu bewegen. Die Kutte, die sie trug, hat ein gezacktes Loch und ist voller Blut. Wenn sie über Bord ging, dann nicht durch einen Unfall.«

»Also was denkst du, was passiert ist?«

»Ich meine, sie wurde getötet und dann über Bord geworfen!«

Kapitel 9

Ein kurzes Schweigen trat ein, während Fidelma die Bedeutung dieser Entdeckung erwog.

»Hast du dem Kapitän schon davon erzählt?« fragte sie schließlich.

Wenbrit schüttelte den Kopf.

»Nachdem ich gehört hatte, daß du dich im Recht auskennst, dachte ich, ich sollte lieber erst mit dir sprechen. Ich habe noch zu keinem anderen ein Wort davon gesagt.«

»Dann rede ich mit Murchad. Es wird wohl klüger sein, wenn du den anderen nichts sagst. Laß sie alle in dem Glauben, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde.« Fidelma hob die Kutte auf und untersuchte sie. »Die nehme ich mit«, entschied sie.

Eine Sache gab ihr sofort ein Rätsel auf. Der zerfetzte Zustand der Kutte ließ vermuten, daß Schwester Muirgel mit einem Messer angegriffen und getötet worden war. Doch es klebte verhältnismäßig wenig Blut an der Kutte. Etwas schon, aber nicht die Menge, wie sie aus so schweren Wunden strömte, die man nach den Schnitten im Stoff vermuten mußte. Und wenn der Mörder Schwester Muirgels Leiche über Bord geworfen hatte, warum machte er sich dann die Mühe, ihr vorher die Kutte auszuziehen? Warum schob er sie unter die Koje, wo sie bestimmt entdeckt werden mußte?

Fidelma fand Murchad in seiner eigenen Kajüte. Rasch berichtete sie ihm von Wenbrits Entdeckung.

»Was schlägst du vor, was wir tun sollen, Lady?« Murchad war besorgt. »So etwas ist noch nie zuvor auf meinem Schiff passiert.«

»Wie ich vorhin schon erklärte, bist du der Kapitän und besitzt nach den Muirbretha die Rechte eines Königs und Oberrichters, während sich das Schiff auf See befindet.«

Murchad antwortete mit einem schiefen Grinsen.

»Ich? König und Oberrichter? Wohl kaum. Wenn ich auch dieses Schiff zu führen habe, wüßte ich doch nicht, wie ich es anstellen sollte, den Verantwortlichen für diese Tat zu finden.«

»Du bist aber der Vertreter von Gesetz und Ordnung auf diesem Schiff«, beharrte sie.

Murchad breitete die Arme aus.

»Was kann ich denn tun? Verlangen, daß sich der Schuldige unter den Passagieren meldet?«

»Können wir überhaupt sicher sein, daß sich der Schuldige unter den Passagieren befindet?«

Murchad zog die Brauen hoch.

»Meine Mannschaft«, brummte er empört, »fährt seit Jahren mit mir. Nein, dieses Übel kam mit den Pilgern an Bord, dafür garantiere ich. Du mußt mich beraten, Lady.«

Der Kapitän in seiner Not schien so verwirrt und unentschlossen, daß er Fidelma leid tat.

»Du könntest mich auffordern, eine Untersuchung vorzunehmen; gib mir die Vollmacht dazu.«

»Aber wenn es so ist, wie du sagst, daß jemand diese Frau umbrachte und während des Sturms über Bord warf, dann ist es doch unmöglich, die Wahrheit herauszubekommen.«

»Das wissen wir nicht, bevor wir diese Untersuchung durchführen.«

»Du könntest dein eigenes Leben dabei in Gefahr bringen, Lady. Ein Schiff ist ein enger Raum, in dem man sich schlecht verbergen kann. Und wenn der Mörder erst merkt, daß du ihm auf der Spur bist ...«

»Das kann in beide Richtungen wirken. Für den Mörder ist es auf dem Schiff genau so eng und so schwer, sich zu verstecken.«

»Ich möchte nicht, daß sich die Schwester meines Königs solcher Gefahr aussetzt.«

Fidelma beruhigte ihn.

»Ich bin schon öfter in Gefahr gewesen, Murchad. Gibst du mir also deine Vollmacht?«

Er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wenn du sicher bist, daß dies das richtige Vorgehen ist, dann hast du natürlich meine Vollmacht.«

»Ausgezeichnet. Ich beginne mit der Untersuchung, aber den Mordverdacht halten wir vorerst geheim. Wir sagen niemandem etwas von der Entdeckung der Kutte. Verstehst du? Ich werde nur erklären, daß ich in deinem Auftrag Nachforschungen anstelle, weil du nach den Gesetzen der Muirbretha einen Bericht an die Rechtsbehörden darüber erstatten mußt, daß ein Passagier auf See umgekommen ist.«

Der Gedanke war Murchad noch gar nicht gekommen.

»Stimmt das? Muß ich das wirklich tun?«

»Die Familie oder die Verwandten eines auf See umgekommenen Passagiers können dich der Nachlässigkeit beschuldigen und Schadenersatz verlangen, wenn sich nicht nachweisen läßt, daß es ein Unfall war. So ist die Lage nach dem Gesetz«, erläuterte sie.

Murchad war entsetzt.

»Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Ehrlich gesagt, das ist noch das geringste deiner Probleme. Viel ernster wird es, wenn die Frau tatsächlich ermordet wurde und der Täter nicht gefunden wird. Dann könnte die Familie den vollen Sühnepreis verlangen. Hat nicht Schwester Crella behauptet, Mu-irgel stamme aus einer vornehmen Familie des Nordens? Ach, ich wünschte, ich hätte meine Gesetzbücher bei mir. Mit den Muirbretha habe ich nie viel zu tun gehabt. Ich erinnere mich an die grundlegenden Gesetze, aber ich wüßte gern genauer Bescheid. Ich werde mein Bestes tun, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein, Murchad.«

Der Kapitän verzagte beinahe angesichts der Größe der Aufgabe.

»Mögen die Heiligen dir bei deinen Nachforschungen Erfolg verleihen«, flehte er inbrünstig.

Fidelma überlegte einen Moment und zog dann eine ironische Grimasse.

»Und welchen Erfolg? Soll ich feststellen, daß Mu-irgel ermordet wurde? Oder daß sie einfach über Bord fiel?«

Murchad schaute so verloren drein, daß Fidelma ihren Zynismus bereute.

»Sagen wir so, Erfolg bedeutet, die Wahrheit herauszubekommen«, sagte sie ernst. »Damit fange ich gleich an.«

Als sie auf das Hauptdeck hinausging, erspähte sie die schattenhafte, aber unverkennbare Gestalt Schwester Ainders, die an der Reling lehnte und in den bedrohlichen Seenebel starrte, der das Schiff immer noch umgab. Sie beschloß, bei der Schwester mit dem scharf geschnittenen Gesicht zu beginnen.

Schwester Ainder richtete sich auf, als Fidelma sie grüßte. Fidelma war keineswegs klein, doch zu der hochgewachsenen Frau mußte sie aufschauen. Schwester Ainder stand in den reiferen Jahren und war noch beeindruckend hübsch, obgleich ein Lächeln nur selten auf ihrem unbewegten, maskenartigen Gesicht erschien. Ihre tiefliegenden dunklen Augen blinzelten kaum und bohrten sich mit einem forschenden Blick in Fidelmas Augen, so daß die Jüngere von dem unbehaglichen Gefühl erfaßt wurde, dieser Blick dringe bis in die Tiefen ihrer Seele vor. Schwester Ainders ruhige, erhabene Haltung schien nicht von dieser Welt. Ihre Stimme war kräftig, wohlklingend und beherrscht.