»Ich muß mich für den peinlichen Abschluß unseres Gottesdienstes entschuldigen, Schwester Fidelma«, intonierte sie eher als sie sprach, wie eine Vorleserin beim Mahl ihrer Glaubensgenossen. Diese eigenartige Sprechweise war Fidelma bis dahin noch nicht aufgefallen. Vielleicht lag es daran, daß sie von den anderen abgelenkt worden war. »Ich verstehe die Leidenschaftlichkeit der Jüngeren nicht.«
»Du meinst die Auseinandersetzung zwischen Schwester Crella und Bruder Bairne? Ich fand Bairnes Wahl der Texte aus der Heiligen Schrift auch etwas sonderbar!«
»Es gibt Dinge, die besser ungesagt bleiben sollten«, bemerkte Schwester Ainder, als stimme sie ihr zu.
Fidelma fragte: »Weißt du, was Bairne Crella vorwirft oder was Crella Bairne vorwirft? Mir schien, da spielte sich etwas zwischen ihnen ab.«
»Was es auch war, uns geht es jedenfalls nichts an.«
»Ich würde gern deine Meinung hören, Schwester, und ich möchte vor allem mehr über Schwester Muirgel erfahren.«
»Sagt nicht ein altes Sprichwort, man solle seinen Nachbarn nicht in den Kochtopf gucken? Ich sehe keinen Anlaß für solche Fragen.« Schwester Ainder strömte Mißfallen aus.
Als ihr Fidelma ihre Absichten ausführlicher erläuterte unter dem Vorwand, den sie mit Murchad abgesprochen hatte, änderte das für Schwester Ainder sehr wenig.
»Die Sache ist völlig klar und schnell zu vergessen.
Schwester Muirgel war so dumm, während des Sturms an Deck zu gehen. Sie bezahlte ihren Fehler mit tragischen Folgen.«
Fidelma gab vor, dem zuzustimmen, und schloß: »Aber es war klug von Murchad, mich um einen offiziellen Bericht zu ersuchen, damit er nicht zur Verantwortung gezogen wird für den Unfall, falls die Familie der Verstorbenen Schadenersatz verlangt.«
Schwester Ainder schob die Erwägung mit einem leichten Schulterzucken beiseite.
»Ich kenne ihre Familie nicht, aber man kann doch dem Kapitän nicht die Schuld geben, wenn einer seiner Passagiere so dumm ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen?«
»Das stimmt«, meinte Fidelma, »doch ich muß sicher sein, daß es sich wirklich so abgespielt hat. Die Aussage von Zeugen ist wesentlich.«
Die Stimme der großen Nonne wurde kühl. »Ich bin bestimmt keine Zeugin.«
»Ich meinte nicht, daß du die Tragödie mitangesehen hättest. Aber du könntest mir Hintergrundinformationen geben. Ich nehme an, du kanntest Schwester Muirgel?«
»Natürlich.«
Fidelma unterdrückte aufsteigenden Ärger. Aus Ainder etwas herauszuholen war wie Zahnziehen.
»Wo hast du sie kennengelernt?«
»In der Abtei Moville.«
»Du kanntest sie also gut?«
»Nein.«
Fidelma beschloß, es anders zu versuchen.
»Wann hast du dich entschieden, auf diese Pilgerfahrt zu gehen?«
»Vor ein paar Wochen.«
»Bist du mit Schwester Muirgel zusammen von Moville nach Ardmore gereist?«
»Ja.«
»Kannst du mir einen Eindruck vermitteln, was für ein Mensch sie war?«
»Das könnte ich wirklich nicht sagen.«
»Aber du mußt doch unterwegs einige Zeit zusammen mit ihr verbracht haben?«
»Nein.«
»Nein?« wiederholte Fidelma gereizt.
»Nein.« Plötzlich gab Schwester Ainder nach. »Wir sind zu zwölft von Moville aufgebrochen. Eine von uns starb schon nach zwanzig Meilen. Sie war eine ältere Schwester, die eine solche Reise gar nicht erst hätte antreten dürfen. Unsere Gesellschaft war so groß, daß ich kein besonderes Interesse an Schwester Muirgel zu nehmen brauchte.«
»Ist das nicht seltsam bei einer Gruppe von Pilgern aus derselben Abtei, die zu einer Fahrt in ein fernes Land aufbricht? Ist es nicht seltsam, daß sie nicht untereinander befreundet sind oder sich wenigstens gut kennen?«
Schwester Ainder schnaufte abweisend.
»Wieso? Eine Pilgerfahrt hat nichts damit zu tun, ob man mit seinen Mitschwestern befreundet ist oder nicht. Auf der Reise zum Hafen haben wir zuweilen nicht einmal in derselben Herberge übernachtet. Außerdem sind die Abteien Moville und Bangor zwar benachbart, aber getrennte Einrichtungen.«
Fidelma wagte noch einen letzten Versuch.
»Dann will ich es anders formulieren. Gab es Feindschaft unter euch?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich verstehe auch nicht, was diese Fragen mit dem Unfall zu tun haben, durch den Schwester Muirgel während des Sturms das Leben verlor.«
»Das ist eben meine Art, an solche Dinge heranzugehen.« Fidelma war selbst überrascht, wie Schwester Ainders hochmütige Haltung sie dazu brachte, sich zu rechtfertigen. Unter anderen Umständen hätte sie die unnachgiebige Nonne scharf zurechtgewiesen.
»Mir erscheint es als eine Zeitverschwendung«, erwiderte Schwester Ainder unbeeindruckt. »Und jetzt gehe ich in meine Kajüte zum Gebet und zur Meditation.« Sie wandte sich ab.
»Einen Moment, Schwester.« Fidelma ließ sich nicht einschüchtern.
»Was denn noch?« Die durchdringenden dunklen Augen schauten auf sie herab.
»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«
Ainder zog die Brauen zusammen. Einen Moment glaubte Fidelma, sie werde die Antwort verweigern.
»Vermutlich beim Anbordgehen. Warum?«
»Vermutlich?« Ihre Frage überging Fidelma.
»Das habe ich gesagt.«
Fidelma bemerkte, wie Zorn in ihren Blick trat, anscheinend überlegte Schwester Ainder, ob sie ihrer Antwort noch etwas hinzufügen sollte.
»Du sahst sie, als ihr an Bord gingt, und danach nicht mehr?«
»Du weißt doch selbst, daß sie dann krank in ihrer Kajüte lag.«
»Du bist nicht zu ihrer Kajüte gegangen, um nach ihr zu sehen?«
»Daran hatte ich kein Interesse.«
»Der Sturm in der Nacht hat dich nicht beunruhigt?«
»Ich denke, daß der Sturm jeden beunruhigt hat.«
»Aber du hast deine Kajüte nicht verlassen?«
»Was bezweckst du mit diesen Fragen?« erwiderte Schwester Ainder bissig.
»Ich möchte lediglich feststellen, ob jemand gesehen hat, wie Schwester Muirgel ihre Kajüte verließ und an Deck ging, wo sie, wie wir annehmen, über Bord gespült wurde.«
Schwester Ainders Gesicht blieb verschlossen.
»Ich habe meine Kajüte nicht verlassen.«
»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel vermißt wird?«
»Als Schwester Gorman mich mit der Nachricht weckte, oder genauer gesagt, als mich ihr Gespräch mit Bruder Cian weckte.«
»Schwester Gorman?«
»Wir haben eine Kajüte zusammen. Sie war anscheinend von Bruder Cian geweckt worden, der nach Schwester Muirgel suchte. Im allgemeinen schlafe ich fest. Ihre Stimmen machten mich wach. Ein dummer Lärm um nichts.«
»Ein Lärm um nichts. Doch wie sich herausstellte, war Muirgel wirklich über Bord gefallen. Die Bemerkung ist nicht gerade barmherzig.«
»Ich meinte ihren Streit«, fauchte Schwester Ainder. »Also ...«
»Ihren Streit?«
Aber Schwester Ainder ließ sich nicht weiter darüber aus. Fidelma versuchte es erneut.
»Worum ging denn der Streit?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Wenn du mit Schwester Gorman die Kajüte teilst, dann kennst du sie sicher gut?« Fidelma versuchte das Thema anders anzupacken.
»Kennen? Kaum. Ein albernes junges Mädchen.«
»Rein aus Interesse, wen kennst du überhaupt aus der Gruppe?« fragte Fidelma.
Wieder wurden die Augen eng und dunkel.
»Das hängt davon ab, was du meinst, wenn du >kennen< sagst?«
»Was würdest du denn darunter verstehen?« konterte Fidelma erbittert.
»Ich würde dem Wort verschiedene Bedeutungen beilegen. Und nun meine ich, daß wir genug Zeit mit diesem Thema verschwendet haben.«
Sie drehte sich um und ging. Fidelma erinnerte sich an ein Spiel aus ihrer Kinderzeit. Auf einem Faß voll Wasser schwammen Äpfel. Das Ziel war es, möglichst viele Äpfel herauszufischen, ohne die Hände zu benutzen. An das Spiel mußte sie denken, als sie aus Schwester Ainder etwas herauszubekommen versuchte, das Prinzip war dasselbe.